James ist drei Wochen alt, 52 Zentimeter groß und wiegt 2650 Gramm. Der kleine Junge hat blaue Augen, lächelt fröhlich und ist der ganze Stolz seiner Mutter Sandra N. „Er schreit nie", sagt sie, als sie sich über den Kinderwagen beugt und ihm den Schnuller in den Mund setzt. James ist nicht nur pflegeleicht, er wird niemals weinen, in die Hose machen oder Omas Porzellan zertrümmern. Denn James ist kein Mensch, sondern eine Puppe.
Er ist ein sogenanntes „Reborn Baby": eine Puppe, die aussieht und sich anfühlt wie ein echtes Baby, in all seiner Zerknautschtheit und Unebenmäßigkeit. Wie so vieles nahm auch dieser Trend seinen Anfang in den USA. Inzwischen gibt es auch in Deutschland eine ständig wachsende Anhängerinnenschar und unzählige Facebook-Gruppen, in denen sich Rebornerinnen austauschen und Fotos posten. Werden die Puppen zum Verkauf angeboten, sprechen die Frauen sogar von „Adoption".
Für James hat die Callcenter-Mitarbeiterin Sandra N. neben Kinderwagen auch eine komplette Kinder-Erstausstattung aus Stramplern, Mützen und Wiege. Wacht sie morgens auf, schaut sie in sein Bett im Schlafzimmer. Warum tut das eine erwachsene Frau? „Wenn ich sein Lächeln sehe, dann kann am Tag nichts mehr schief gehen", sagt sie. Und: „Ich konnte mir mein Wunschkind bestellen." Haar-, Haut- und Augenfarbe - die Puppe wurde komplett nach den Vorlieben von Sandra N. gestaltet. 430 Euro hat sie für James bezahlt. Ein Kinderersatz ganz bequem im Internet bestellt? „Nein. Es ist und bleibt eine Puppe", sagt die 40-Jährige, die selbst Mutter einer 18-jährigen Tochter ist.
James stammt aus der Werkstatt von Barbara Klünder. Sandra N. ist eine Stammkundin der Rentnerin, die vor 13 Jahren angefangen hat, Reborn Babys herzustellen. In ihrem Ruhestand hatte die ehemalige Krankenschwester und Erzieherin nach einem Hobby gesucht und stieß im Internet auf die Baby-Puppen. „Meine Kunden wollen sich mit einer Reborn etwas Gutes tun", erzählt sie. Ihre Geschöpfe verkauft sie für 400 bis 600 Euro pro Stück in Deutschland, aber auch in die Schweiz, nach Großbritannien und Spanien. Spezielle Sammlerstücke einiger Hersteller kosten im Internet sogar bis zu 25.000 Euro. Die Herstellung dauert rund 60 Stunden. 20 bis 25 Farbaufträge bringt Barbara Klünder auf einen Bausatz auf, bestehend aus Kopf, Armen und Beinen; anschließend befestigt sie die Kopfhaare einzeln. Ohren, Nase und Fältchen zeichnet sie gesondert auf die Puppen, damit diese so real wie möglich aussehen. Auch wenn sie Kundenwünsche berücksichtigt, sei jede Reborn-Puppe nach ihren eigenen Vorstellungen kreiert.
Vor drei Jahren kaufte Sandra N. Penelope von Barbara Klünder und wurde damit zum ersten Mal Reborn-Mutter. Penelope war für sie eine Therapie-Puppe. Sandra N. litt zu dieser Zeit am Burnout-Syndrom und hörte von der therapeutischen Wirkung von Reborn Babys. „Als ich Penelope auf den Arm nahm, merkte ich, wie mein Körper entspannte und ich runterfahren konnte", erzählt sie. Noch heute würden ihr die Puppen in stressigen Situationen helfen. „Andere neben Anti-Depressiva, und ich nehme eben meine Puppe. Es geht mir gut dabei, und das ist alles, was zählt", sagt sie.
Auch Klünder weiß vom therapeutischen Effekt, den ihre Reborn Babys haben können. Einige ihrer Puppen sind im Hospiz und Altersheim im Einsatz. Seit einem Jahr hilft Sandra N. mit einer Reborn-Puppe in einem Säuglingspflegekurs in einem Mutter-Kind-Heim - und dort auch werdenden Müttern. „Wenn man zum ersten Mal Mutter wird, hat man während der Schwangerschaft viele Ängste. Die Reborn Babys liegen wie ein Säugling in der Hand, sodass werdende Mütter ein viel besseres Gefühl für ein Baby entwickeln können", sagt sie.
Mit ihrer Leidenschaft für die „wiedergeborenen Babys" hat sie bereits andere Frauen angesteckt. „Es war Liebe auf den ersten Blick", beschreibt etwa Wilma S. den Moment, als sie die sechs Monate alte Cheyenne sah. Auf einer Messe traf sie Sandra N., die ihre Puppe Cheyenne dabei hatte. „Kann ich sie mal nehmen?", fragte Wilma S. Erst auf ihrem Arm bemerkte sie, dass Cheyenne gar kein Säugling war, sondern eine Puppe.
Die beiden Frauen blieben in Kontakt, und weil Wilma S. Cheyenne nicht mehr vergessen konnte, verkaufte ihr Sandra M. die Puppe. Schweren Herzens und für den Preis wochenlanger Leer - ehe sie sich bei Barbara Klünder eine neue Puppe bestellte. „Es war eine schreckliche Zeit", erinnert sich Sandra N. „Ich habe total schlecht geschlafen, weil mir etwas gefehlt hat."
„Viele Menschen haben ein Hobby. Es gibt Männer, die spielen mit Eisenbahnen, und ich spiele eben mit meiner Puppe", erklärt Wilma S., die zwei erwachsene Söhne hat. Die 59-Jährige hatte eine schwierige Kindheit und vermutet hinter ihrem neuen Hobby einen Nachholbedarf. „Ich hatte als Kind keine Spielsachen, keine Puppen. Vielleicht ist es deswegen", sagt sie. Mit einem Kinderwagen würde sie aber nie vor die Tür gehen. „Meine Nachbarn würden das nicht verstehen", sagt sie. Bei Sandra N. ist das anders. Ihr Umfeld zeige Verständnis, ihr Mann helfe ihr sogar beim Bestellen von neuen Babys. Auch zur Arbeit ins Callcenter nimmt sie ihren James mit. „Mir ist egal, was die Leute denken. Ich erwarte von niemandem, so zu fühlen, wie ich es tue. Aber man soll mir mit Akzeptanz und Toleranz begegnen", sagt sie.
Star der Szene ist eine Schülerin namens Maggie. Auf ihrem YouTube-Kanal „Maggies Reborn Welt" zeigt sie, wie sie mit ihren Reborn Babys Lennox, Mel und Benetton lebt, sie wickelt, an- und auszieht, füttert, spazierenfährt, schlafenlegt. „Das Tollste an den Babys ist, dass man in jedem Alter Mama sein kann", sagt Maggie. Nicht jedem gefällt, was das Mädchen macht. Auf YouTube erreichen sie auch viele Hass-Kommentare, wie „Ich finde das extrem krank!", „Das ist verstörend!" oder: „Was bist du für ein Psycho?". Auch in der Schule sei sie mit ihrem Hobby „ziemlich alleine", sagt Maggie. Darüber können sie inzwischen aber immerhin 14.000 Abonnenten hinwegtrösten.
Unter Rebornerinnen ist Maggie ebenfalls nicht unumstritten. Ihre Videos würden ein falsches Licht auf Reborn-Mütter werfen, meinen einige. Das Mädchen würde die Puppen zu sehr vermenschlichen. „Da muss ich mich nicht wundern, wenn Menschen, die vorher noch nie Kontakt mit einer Reborn-Mutter hatten, denken: ,Die haben einen an der Klatsche'", sagt Sandra N. Möglicherweise zielt die Schülerin mit ihren Videos aber genau auf diesen Schock-Effekt ab: „So jung und ein Kind!", entfährt es einmal, in einer Mischung aus Schreck und Entrüstung, einem älteren Herren, als der zahnspangige Teenager samt Hund an der Leine und Lennox im Tragetuch an ihm vorbeipromeniert.
Wilma S. hat für derlei Späße wenig übrig. Für sie seien die Puppen etwas Schönes und kein Kinder-Ersatz, sagt sie. Aber meint sie das auch so? Barbara Klünder erreichen immer wieder Aufträge von Eltern, die ihr Kind verloren haben. Sie glaubt aber, das sei nicht der Sinn einer Puppe. „Das würde ihnen nicht helfen und sie nur noch mehr an den Verlust erinnern. Eine Puppe soll Freude bringen", sagt die Rentnerin. Eine Anfrage, die Asche des verstorbenen Kindes in eine Puppe zu legen, lehnte Klünder ab.
„Manche können den Verlust mit einer Puppe verarbeiten, andere spüren dadurch den Verlust des Kindes noch intensiver", meint Sandra N. Jeder müsse schauen, was die richtige Lösung sei. In ihrer Facebook-Gruppe, in der sie sich mit anderen Reborn-Müttern austauscht, gebe es durchaus Frauen, die ein Kind verloren haben. Nicht jede versuche aber, mit der Puppe den Verlust zu kompensieren. Die Wahrheit kennen wohl nur die Frauen selbst.
In einigen Wochen bekommt Sandra N. jedenfalls erst einmal Zuwachs. Deswegen baut sie gerade gemeinsam mit ihrem Mann das Schlafzimmer um.
Nicht für ein Kind, sondern für drei weitere Puppen.