Fragt ihr euch manchmal, wie es dazu kommt, dass sich eigentlich „ganz nett“ aussehende Menschen freiwillig schiefe Herzchen, verschwommene Punkte oder krumme Kreise an die seltsamsten Körperstellen tätowieren (lassen)? Weil sie es können. Und weil sie dafür schon längst nicht mehr in ein steriles Tattoostudio gehen müssen. Stick’n’poke heißt der letzte Schrei im Tattoobusiness, Freunde tätowieren Freunde, am besten zu Hause. Und manchmal tätowieren sie auch durchgeknallte Radioreporterinnen…
(2x Sprühsound aus Pumpflasche) Da wo Pauli sonst ihre Pizza isst, also: in ihrer Küche, wird sie mich tätowieren. Kein Scherz. Ohne Maschine. stick'n'poke nennt man das, stechen und stoßen.
Pauli trägt schwarze Gummihandschuhe. Die hölzerne Platte des Küchentischs hat sie desinfiziert und mit Frischhaltefolie eingepackt. Aus einer schmalen Verpackung popelt Pauli eine Nadel hervor, deren Form mich an Rouladenspieße erinnert. Die hängt man eigentlich in Tätowiermaschinen. Das weiß ich, weil ich bereits tätowiert bin, damals aber mit einer summenden Maschine. Heute ist alles anders. Heute summt nichts…
Lydia & Pauli im Gespräch: „So. Okay.“ – „So, dann geht’s los.“ – „Du musst dir den Arm so…“ – „Ich nehm' mir den dann.“ – „Ich will ja nicht verkrampfen.“ – „Wenn es geht, würde ich mir den so hinlegen.“ – „Ja.“ – „Und wenn irgendwas ist, sagste Bescheid.“ – „Ja.“
Pauli
tunkt die Spitze des Rouladenspießes in schwarze Tinte und drückt
diese dann in meine Haut am Unterarm. Es piekst ein bisschen, aber es
tut nicht weh. Ganz anders als das Reißen der Maschine. Hingucken
kann ich trotzdem nicht.
Pauli bekam ihr erstes Tattoo mit 18. Jetzt ist sie 27 und tätowiert selbst. Angefangen hat sie vor anderthalb Jahren, im Urlaub, bei Freunden…
Pauli: „Ich war tatsächlich natürlich auch aufgeregt, aber hab' bei mir selbst angefangen, um sicher zu gehen, dass ich nicht bei irgendwem anderes was verhaue. Und dadurch war das Vertrauen von den anderen auch sehr groß dann. Gleichzeitig haben sie auch gesagt: Hey, wenn was schief geht, […] dann isses so.“
Stick'n'poke
ist der letzte Schrei – hat aber nicht den besten Ruf. Jeder kann
es machen, aber niemand muss es so richtig können. Je abgefuckter
das Motiv, desto besser; schiefe Smileys und krumme Buchstaben an
seltsamen Stellen wie Handinnenfläche oder Augenlid? Kein Problem,
das Unperfekte ist perfekt.
Das finde ich gut, aber es kann auch 'ne Menge schiefgehen. Sticht man die Nadel zu tief in die Haut, entstehen Narben. Sticht man nicht tief genug, bleibt die Farbe nicht drin. Und der größte Muttischreck ist sicher nicht das Motiv, sondern die Hygiene beim Tätowieren. Wer sehen will, wie man es NICHT macht – auf dem Bett, neben einer Katze – wird bei YouTube fündig…
Pauli: „Ich hab' schon oft drüber nachgedacht, in ein Studio zu gehen, aber ich hab' mit der Zeit einfach gemerkt, dass es den Kunden viel lieber ist, zu mir nach Hause zu kommen. Und das ist einfach 'ne schönere Atmosphäre.“
Inzwischen tätowiert Pauli nicht nur Freunde, sondern auch Fremde wie mich. Mindestens 18 müssen die sein – und mindestens 50 EUR einplanen. Das ist für ein Motiv von wenigen Zentimetern Größe nicht wenig, aber Paulis Erfahrung ist mir mehr wert als eine Runde „Tattooroulette“. Nur zur Info: Im Netz gibt’s alles. Farbe, Folie, Nadeln. 10 EUR für 100 Stück, wenn man es günstig will.
Lydia & Pauli im Gespräch: „Ich mach' dir noch eben Folie drum, die dann bis heute Abend dran lassen.“ – „Gut.“ – „Und dann mit warmen Wasser abspülen, und schön Kokosfett.“ – „Mach' ich, mach' ich.“
Nach einer halben Stunde ist alles vorbei – auf meinem Unterarm glänzen ein Play- und ein Pause-Zeichen, meine beiden Lieblingstasten. Vielleicht kommt irgendwann die rote Kuller für Record dazu. Farbe geht ja auch, ist aber teurer. Ich bin zufrieden – mit meinem Tattoo und mit meiner Entscheidung.