(erschienen am 29.6.2017)
Renovierung oder lieber Abriss? Häuslbauer und Architekten kennen diese Frage. Bei wohl keinem Bauwerk in Österreich wird sie aber schon so lange diskutiert wie beim Wiener Ernst-Happel-Stadion. Wenn im Prater gerade keine Fußballspiele stattfinden, feiern die Zeugen Jehovas hier Massentaufen, oder Helene Fischer besingt ihre heile Welt. Das Happel-Stadion wirkt dann wie ein friedlicher Ort, doch das täuscht. Um die Sportstätte ranken sich Fehden und politische Kämpfe.
In diesen Wochen dürfte endgültig über die Zukunft des größten Stadions des Landes entschieden werden. Letzte Woche reiste Claus Binz, Chef des deutschen Instituts für Sportstättenberatung, nach Wien, um eine Machbarkeitsstudie zu präsentieren, die Sportminister Hans Peter Doskozil bei ihm beauftragt hatte. Schließlich träumt der umtriebige Minister genauso wie der Österreichische Fußball-Bund (ÖFB) von einem neuen "Nationalstadion". Doskozil und ÖFB-Präsident Leo Windtner fordern anstelle des Happel-Stadions eine Arena ohne Laufbahn, dafür mit steilen Rängen. Ganz im Gegensatz zur Wiener SPÖ: Sie tritt voller Vehemenz als Bewahrerin des 1931 errichteten Ovals auf, allen voran Sportstadtrat Andreas Mailath-Pokorny. Renovierung oder Abriss, diese Frage entzweit Bund und Stadt.
Das 1993 auf den Namen der Fußballikone Ernst Happel getaufte Praterstadion droht derweil zu einem Wahrzeichen der sportpolitischen Lethargie der Stadt Wien zu werden. Visionen sucht man bei den Kommunalpolitikern im Umgang mit ihren Sportplätzen vergeblich. Die in die Jahre gekommenen Wettkampfstätten werden bieder verwaltet, fast so, als wären sie Gemeindebauten oder Amtsgebäude. Man hält die verstaubten Anlagen zwar in Schuss, verliert im internationalen Vergleich aber an Terrain. In Madrid, in London, in Stockholm und Budapest, überall in Europa werden zukunftsweisende Fußballarenen hochgezogen. Nur hierzulande schwelgt man in Nostalgie.
Mailath-Pokorny beharrt bisher darauf, ein Neubau anstelle des Happel-Stadions sei ausgeschlossen. Der Sportstadtrat verweist auf den Denkmalschutz, unter dem das Stadion seit 2001 steht. Beispiele aus Deutschland zeigen jedoch, dass die Denkmalschützer bei der Umwandlung historischer Sportstätten in der Regel der Politik folgen müssen - falls die Politik denn umbauen will. Doch Mailath-Pokorny trägt den Denkmalschutz wie eine Monstranz vor sich her.
Die kühne Selbstdarstellung als Sportstadt lässt Athleten und Funktionäre staunen
Schon vor der Veröffentlichung der Machbarkeitsstudie des deutschen Experten Binz lässt sich daher ahnen: Es wird nicht viel machbar sein. Dabei ist die Substanz, welche die Stadt Wien bewahren will, weder zeitgemäß noch sonderlich besucherfreundlich. Die Defizite des Betonkolosses sind offensichtlich: Eine Laufbahn schneidet die Zuschauer vom Spielgeschehen ab, und die Ränge sind viel flacher als in modernen Arenen, wie sie in Deutschland, England und Spanien stehen. Außerdem liegen die Stiegen, über die sich bis zu 51 000 Menschen zu den Sitzplätzen drängen, vor den Tribünen - ein Wiener Unikum, weil sich vergleichbare Konstruktionen schlicht nirgendwo bewährt haben. In neueren Stadien sind die Stufen hinter den Rängen im Mantel verhüllt und führen durch sogenannte Mundlöcher ins Innere.
"Ein neues Stadion im Prater wäre theoretisch die optimale Lösung", sagt daher der Sportarchitekt Harald Fux, der zahlreiche Ballsport- und Leichtathletikstätten in Österreich geplant hat. "Das Happel-Stadion ist nicht genügend Architekturjuwel, dass es ewig stehen bleiben sollte", findet Fux. Schon jetzt gleicht ein Besuch des Stadions im Prater einer Zeitreise in historische Fußballtage, als man es gewohnt war, dass auch die beste Stimmung sich in weiten Tribünenellipsen verflüchtigt.
In der Fußballsprache würde man sagen: Der Stadtrat spielt auf Zeit
Doch nicht nur der ÖFB klagt in Wien über seine Heimstätte. Die Schwimmer etwa wünschen sich neben dem Stadthallenbad ein zusätzliches überdachtes 50-Meter-Becken. Ehemalige österreichische Tennisspieler berichten hinter vorgehaltener Hand, die Stadthalle als Herberge eines 1,9-Millionen-Euro-Turniers sei ihnen zunehmend peinlich. Auch andere Ballsportler hätten gerne einen neuen Multifunktionsbau, nicht so groß wie die Stadthalle, dafür moderner. Das Dusika-Stadion im Prater mit seinen Leichtathletik- und Bahnradanlagen wirkt ebenfalls aus der Zeit gefallen. Und die angeblich erhaltenswerte Laufbahn im Happel-Stadion kann seit Jahren nicht für Profi-Wettkämpfe genutzt werden, weil sie Wellen und Löcher hat. Durch Tribünen ersetzt wird sie bisher aber auch nicht.
"Die Stadt Wien stellt 3,4 Millionen Quadratmeter Sportfläche zur Verfügung, das sind der sechste und siebente Bezirk zusammen", hält ein Sprecher von Stadtrat Mailath-Pokorny den Lamentos der Sportverbände entgegen. Es ist natürlich nicht alles schlecht, was Wien seinen Sportlern anbietet. Nur die kühne Selbstdarstellung als Sportstadt lässt viele Athleten und Funktionäre staunen. Wenn Bürgermeister Michael Häupl im Jahr 2012 etwa einfällt, er hätte gerne Olympische Sommerspiele in Wien, obwohl gerade das Becken des Stadthallenbades leckt. Oder eben wenn Mailath-Pokorny in einem Zeitungsinterview meint, das Happel-Stadion könne durchaus auch so bleiben, wie es ist.
Wer die Details des Denkmalschutzes kennt, muss zu dem Schluss kommen: Keine der Maßnahmen, die das Oval in einen kochenden Fußballkessel verwandeln würden, sind durchführbar. Der einstige Prestigebau des Roten Wien, 1956 um einen dritten Rang erweitert, ist ein Endstadion. In einem Schreiben an die Wiener Sportstätten Betriebsgesellschaft hielt das Bundesdenkmalamt fest, bei etwaigen Renovierungen sei besonderer Bedacht auf das Dach sowie den ersten und zweiten Rang zu nehmen. Ein gesamter Abriss sei ohnehin tabu.
Sportarchitekt Harald Fux sieht wenig Chancen, das Happel-Stadion noch in eine zeitgemäße Arena umzuwandeln. Der Bau steilerer Ränge scheitert am denkmalgeschützten Dach. Dieses wurde 1986 von der damals noch staatlichen Voest aufgesetzt und hängt am dritten Rang. "Leider gibt es fast kein Beispiel für eine erfolgreiche Renovierung einer denkmalgeschützten Arena, bei der die Originalgeometrie erhalten wurde", sagt Fux.
Trotzdem hat Mailath-Pokorny zu Jahresbeginn mit Sportminister Doskozil die Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. In der Fußballsprache würde man wohl sagen, er spielt auf Zeit. Auch dass sein roter Parteifreund Doskozil einer neuen Bundesregierung im Herbst möglicherweise nicht mehr angehören wird, kommt dem Stadtrat nicht ungelegen. Die Stadiondebatte könnte dann sanft entschlafen.
Die Wiener Politik bemüht als Musterbeispiel einer geglückten Renovierung gerne das Berliner Olympiastadion. Doch auch der Fußballverein Hertha BSC ist dort mittlerweile unglücklich. Deutschland hat die Jahre vor der Fußball-WM 2006 genutzt, um seine Städte mit modernen Stadien zu versehen. In Österreich ist vor der Euro 2008 zumindest in den Landeshauptstädten neu - wenn auch nicht unbedingt kostenbewusst - gebaut und aufgestockt worden. Doch in Wien wurde - wie immer - bloß renoviert. Man muss der Stadt zugutehalten, dass sie das Stadion immerhin an das U-Bahn-Netz angebunden hat. Die Chance für einen Neubau wäre damals aber viel besser gewesen, denn mittlerweile haben die Wiener Traditionsclubs Rapid und Austria selbst in neue Stadien investiert. Sogar der zurückhaltende ehemalige ÖFB-Präsident Friedrich Stickler gab zu: "Wir haben es verabsäumt, das Stadion zu sprengen oder abzureißen."
Die Diskussion wird nach immer gleichem Muster geführt. Schon im Herbst 1984, als es noch gar kein Stadiondach gab und der Namenspatron Ernst Happel noch lebte, fragte ein ÖVP-Mandatar im Gemeinderat bedeutungsschwanger: "Renovieren wir nun das Stadion, weil wir ein Denkmal wollen, oder wollen wir ein Stadion, in dem der Zuschauer am Sportgeschehen mehr beteiligt ist?" Im Grunde könnte man nicht nur das Stadion, sondern die ganze Debatte unter Denkmalschutz stellen.
Im Büro von Stadtrat Mailath-Pokorny wird auch damit argumentiert, in der Architektur der Sportstätte gerinne Zeitgeschichte. Weil vom Praterstadion aus Tausende Juden ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurden, sei es zudem ein Gedenkort. Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen gebe es auch einen finanziellen Rahmen, der mit der Renovierung der Rundturnhallen, der Vereinsmillion und anderen Initiativen ausgeschöpft sei. Man wolle nicht nur den Fußball, sondern auch Rand- und Breitensport finanzieren, lautet das Argument.
Mailath-Pokorny schließt mittlerweile eine neue Arena irgendwo anders in Wien nicht mehr aus. "Ich bin nicht grundsätzlich gegen einen Neubau, ich würde mir diesen als Sportstadtrat wünschen. Aber dafür müssen zuerst verschiedene Fragen geklärt sein, wie die Finanzierung, der Ort, die Widmung und die möglichen Partner", sagt er. Seine Lust, ein solches Projekt, das bis zu 300 Millionen Euro kosten soll, ernsthaft in Angriff zu nehmen, dürfte aber begrenzt sein. Der ÖFB möchte außerdem nicht aus dem Prater wegziehen.
Vielleicht liegt die Lösung für das sportpolitische Patt ja in einem Beispiel aus Holland. In Rotterdam gibt es Pläne, das geliebte Feijenoord-Stadion zu erhalten und eine neue Spielstätte daneben zu bauen. Im alten Stadion De Kuip sollen Wohnungen mit Panoramablick und eine Brauerei entstehen, und wo heute noch Profifußball gespielt wird, soll es demnächst einen Park mit einer Laufbahn geben.
Wohnungen im Ernst-Happel-Stadion, daneben eine moderne Arena? Zwei Stadien im Prater in direkter Nachbarschaft wären natürlich ein gewaltiger Kompromiss. Aber darin soll Wien ja Übung haben.