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Reportage

Anwalt der Schüler und Feuerwehr der Lehrer

Sie sollen vermitteln, Streit schlichten und ein offenes Ohr haben. Schulsozialarbeiter leisten, wofür viele Lehrer keine Zeit haben. Dafür müssen sie zunächst nach den Ursachen der Probleme suchen.

Schlabberjeans und Beani-Mütze: Was Klamotten betrifft, könnte Mirko Wohlrab glatt als Schüler durchgehen. Wären da nicht der Vollbart und einige graue Haare. Wohlrab ist 36 Jahre alt und Schulsozialarbeiter im Chemnitzer Ortsteil Sonnenberg. Sein Arbeitstag beginnt mit einem Termin bei Schuldirektorin Evelin Grunwald.

Wohlrab notiert sich alles in einem schwarzen Notizbuch. Es wird von einem Gummiband umschlossen, als dürfe keine Information nach draußen dringen. Ein Schüler kommt nicht mehr zur Schule, niemand weiß warum. Ein anderer Junge ist neu und scheint kein Deutsch sprechen zu wollen. Ein Mädchen wurde bereits mehrfach suspendiert, erfindet Geschichten über ihre Lehrer. Die Mutter gibt der Schule die Schuld.

"Was ich dazu denke, habe ich Ihnen ja schon gesagt. Aber was da zu Hause abgeht, ist ja nicht unsere Sache", sagt Grunwald. Langsam blickt Wohlrab von seinem Buch auf. Seine Stimme ist ganz ruhig als er antwortet: "Ja, meine schon." Zusammen mit seiner Kollegin Theresa Reuter betreut er eine Förderschule und eine Oberschule über insgesamt eineinhalb Stellen. Finanziert werden diese von der Stadt Chemnitz.

Da beide Schulen Bedarf angemeldet haben, seien ihre Stellen relativ sicher, sagt Wohlrab. Nun soll die halbe Stelle sogar aufgestockt werden. "Wir hätten jedoch noch mehr Bedarf", sagt Grunwald, Schulleiterin an der Georg-Weerth-Oberschule.

Fachlich nicht erforderlich – aber unentbehrlich

Eigentlich kann sie sich glücklich schätzen. Von 1447 sächsischen Schulen werden nur 166 von Sozialarbeitern betreut. An allen Schulen seien sie fachlich gesehen gar nicht erforderlich, meint das Sozialministerium auf Nachfrage. Viele Schulleiter, Lehrer, Schüler und Schulsozialarbeiter sehen das wohl anders.

Im Unterricht oder in den Pausen geht manchmal die Post ab. Da ist zum Beispiel eine Achtklässlerin, die ihrer Lehrerin die Zunge herausgestreckt hat und findet, dass sie eine "Schrulle" ist. Jetzt versteckt sie sich hinter einem Regal im Zimmer der Schulsozialarbeiter. Die Lehrerin kommt herein, entdeckt das Mädchen nicht. Sie bittet darum, sollte die Schülerin gesehen werden, "richten Sie ihr doch bitte aus, sie möge zum Unterricht erscheinen."

Wohlrab macht seinen Job seit knapp zwei Jahren. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Mittweida. Anfangs fühlte er sich in seiner neuen Rolle missverstanden: "Es ist nicht meine Aufgabe, als Feuerwehr zu agieren." Die Lehrer hätten sich zwar über seine Unterstützung gefreut. Doch schnell sei klar gewesen, dass sie erwarteten: "Sie brauchten einen Aufpasser."

Einige wollten, dass er sich im Unterricht neben Störenfriede setzt. "Das ist keine Schulsozialarbeit. Ich muss in Gesprächen herausfinden, worin Gründe für die aktive oder passive Schulverweigerung liegen", sagt der dreifache Vater. Wohlrab will Anwalt der Schüler sein und zwischen Schülern, Lehrern und Eltern vermitteln.

"Da ist wohl eine Sicherung durchgebrannt"

Wer Wohlrab bei seiner Arbeit begleitet, bekommt schnell ein Gefühl dafür, wie sehr Sozialarbeiter an manchen Schulen gebraucht werden. Ein Schüler sitzt vor seinem Klassenzimmer und weint. Vor ihm steht eine Lehrerin und brüllt ihn an. Es hat noch nicht zur Pause geläutet, dennoch hat sich die halbe Klasse auf dem Gang versammelt. Die Pädagogin hat mit einer zweiten Lehrerin die Klasse gemeinsam unterrichtet.

Der Junge hat den Unterricht unentwegt gestört – so lange, bis eine der Kolleginnen die Nerven verlor und ihn am Arm aus dem Raum gezerrt hat. "Da ist wohl eine Sicherung durchgebrannt", sagt Wohlrab. In diesem Fall muss er mit allen reden – dem Schüler, den Lehrerinnen und der ganzen Klasse.

Als Lösungsmöglichkeit fällt dem Sozialarbeiter spontan ein Projekt mit der Schulklasse ein, beispielsweise im Kinder- und Jugendzirkus im Stadtteil. "Man kann aber nicht blauäugig irgendein Projekt machen", sagt der 36-Jährige: "Die Schüler müssen ein gemeinsames Ziel haben. Sie sollen ein Feeling füreinander kriegen. Auch nach dem Projekt geht die Arbeit weiter. Schulsozialarbeit funktioniert nur mit Kontinuität." Handlungsbedarf sieht er auch an anderer Stelle: "In der Lehrerausbildung kriegt man so etwas nicht mit."

Geschichtslehrer Jan Naumann schließt das Schultor hinter sich und zündet eine Zigarette an. Auch er kennt Situationen, die jeden Lehrer überfordern. "Wenn man 25 bis 30 Schüler unterrichtet und einer tickt richtig aus, da braucht es eine zweite Kraft", sagt der 46-Jährige. Ihm fällt auf, dass die Hemmschwelle zur Gewalt bei den Schülern immer niedriger wird.

Einmal sei ein Kind so wütend auf einen anderen Schüler gewesen, dass es ihm einen Reißnagel in den Arm pinnte. In solchen Augenblicken wünscht er sich Mirko Wohlrab an die Seite: "Er findet immer den richtigen Ton bei den Kids", sagt Naumann. Doch eine halbe Stelle an der Oberschule sei ein Witz für den Bedarf.

Unterschiedliche Schulformen haben unterschiedliche Probleme

Wohlrab hält Schulsozialarbeit an allen Schulen für sinnvoll, auch an Grundschulen und Gymnasien: "So könnten wir besser präventiv arbeiten." In jeder Schulart gebe es einen besonderen Bedarf. "An der Lernförderschule haben wir krassere Fälle, was die familiären Probleme betrifft", sagt der Sozialpädagoge. An der Oberschule hätten dagegen mehr Schüler ein Problem mit dem Schulsystem, zum Beispiel mit Frontalunterricht. Gymnasiasten belaste vor allem Leistungsdruck: "Das tritt nur viel subtiler in Erscheinung."

Eine nicht repräsentative Umfrage des Landesschülerrats (LSR) Sachsen zeigt, dass auch die Schüler den Wunsch Wohlrabs teilen. 95 Prozent der Mädchen und Jungen an Schulen ohne Schulsozialarbeiter halten ein solches Angebot für sinnvoll, sagt Friedrich Roderfeld, Vize-Chef des LSR. Deshalb fordere der Landesschülerrat flächendeckende Schulsozialarbeit in Sachsen.

Emily und Julia wissen nichts von diesen Debatten. Für beide Mädchen beginnt der Tag heute mit dem Duft von Waffeln. Die Achtklässlerinnen sind Teil einer Fördergruppe. Das bedeutet Lernen in einer kleineren Klasse und reduzierter Unterricht. Alle zwei Wochen frühstücken die Sozialarbeiter mit den fünf Schülern im Don Bosco Haus, dem Träger der beiden Sozialarbeiterstellen.

Dort haben Wohlrab und seine Kollegin ihr Büro und können auch andere Räumlichkeiten des Hauses nutzen. Eine gute Möglichkeit, Schüler aus dem Schulhaus rauszunehmen, zum Beispiel beim Frühstück. "Wir reden mit ihnen über ihre Ziele und Perspektiven. Aber auch über Gefühle", sagt Wohlrab.

Julia weiß selbst genau, wann sie Hilfe braucht. "Wenn ich Wut im Unterricht habe, nimmt mich Theresa auch mal raus und spricht mit mir darüber, was mich wütend macht", sagt die Schülerin über ihre Ansprechpartnerin. Jetzt beim Frühstück bleibt das Thema Schule nicht aus. Die Mädchen beschweren sich über einen angeblich langweiligen Unterricht. Reuter fragt, ob sie ihre Lehrerin schon einmal gebeten haben, den Unterricht anders zu machen. Die Blicke der Mädchen richten sich auf die Teller. Sie schweigen.