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8. Mai 1945: So erinnert Deutschland heute

Sie war ein Wendepunkt im Umgang mit der NS-Diktatur: die Rede von Richard von Weizsäcker, 40 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges. „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, sagte der damalige Bundespräsident am 8. Mai 1985 in einer Gedenkstunde im Bonner Bundestag. In Nachdrucken, Ton- und Filmaufnahmen wurde die Rede anschließend massenhaft verbreitet, auch über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus. Mit ihrem Bekenntnis zu Schuld und Erinnerung grenzte sie sich deutlich von der bis dahin vorherrschenden Erinnerungspolitik ab. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit hat in Deutschland eine wechselvolle Geschichte. Wie das Land erinnert und gedenkt, wird auch 76 Jahre nach Kriegsende immer wieder neu ausgehandelt.

Vergangenes Jahr hat die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano in einem offenen Brief gefordert, den 8. Mai bundesweit zu einem gesetzlichen Feiertag zu erklären. Es sollte ein Tag sein, der die Gelegenheit böte, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit, so Bejarano. „Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten“, schrieb die Vorsitzende des Auschwitz-­Komitees an die Regierenden. „Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Nie­der­schla­gung des NS-Regimes.“

„DIESE REDE WAR EXTREM WIRKMÄCHTIG“

Ohne die Rede von Richard von Weizsäcker würden wir heute nicht so über die deutsche Erinnerungskultur diskutieren, wie wir es tun, sagt Wolfgang Kissel. Er ist Professor für Kulturgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas und Sprecher des Instituts für Europastudien der Uni Bremen. „Diese Rede war extrem wirkmächtig.“ Zweifelsohne habe Weizsäcker an diesem Tag eine Zäsur in der deutschen Erinnerungskultur gesetzt, sodass man von einer Zeit vor und nach der Rede sprechen könne.

Unmittelbar nach Kriegsende begann die Zeit der Tabuisierung, die bis in die späten 50er-Jahre dauerte. In Westdeutschland gab es ein stilles Einvernehmen, über die Gräueltaten des NS-Regimes zu schweigen. Im Vordergrund stand der Wiederaufbau des Landes, die Gesellschaft musste funktionieren. Raum für gesellschaftliche Auseinandersetzungen gab es nicht, stattdessen hielt man an der eigenen Opferrolle und einer kollektiven Unschuldsvermutung fest. Anstöße zur bundesdeutschen Aufarbeitung gaben der Eichmann-Prozess, in dem sich der ehemaligen SS-Obersturmbannführer 1961 in Jerusalem für den millionenfachen Mord an Juden verantworten musste, sowie die Au­schwitz­-Prozesse gegen die Angehörigen der SS-Wachmannschaft ab 1963. Die Forderung nach kritischer Aufarbeitung der Vergangenheit kumulierte in der Studentenbewegung Mitte des Jahrzehnts. Mit der US-amerikanischen vierteiligen TV-Serie „Holocaust“ drang 1979 das erste Mal eine umfassende filmische Darstellung der Vergangenheit in deutsche Wohnzimmer – ein Durchbruch für die Erinnerungskultur.

Die Veränderungen der 60er- und 70er-Jahre flossen ein in Weizsäckers Rede. Sein Aufruf war ein Paradigmenwechsel: Das dauerhafte Erinnern an die NS-Vergangenheit sollte zu einem Grundstein der bundesrepublikanischen Kultur werden. Damit grenz­te sich der Bundespräsident in weiten Teilen von anderen Politikern seiner Zeit ab, die auf eine Schlussstrichmentalität setzten. Weizsäckers Rede hat laut Kissel bis heute noch an Bedeutung gewonnen, aber sie enthält auch eine Reihe von Kompromissen und rhetorischen Konzessionen an das konservative Lager. Das setzte mit Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls 1982 an, der Erinnerungskultur entgegenzusteuern.

DISKURS DER SOWJETUNION

Mit dem Ausspruch „Tag der Befreiung“ bediente sich Weizsäcker einer Erinnerungskultur, die zuerst in der DDR aufgekommen war, sagt Kissel. „Sie steht im Zeichen eines sowjetisch dominierten Diskurses.“ Und dieser lautete, dass die Soldaten der Roten Armee im gesamten östlichen Europa, beginnend von den besetzten Territorien der Sowjetunion über Polen bis hinein nach Deutschland die Bevölkerung von der NS-Okkupation befreit hatten. „Befreiung“ sei ein Begriff der Stalin-Zeit, sagt Kissel. Für Mittel- und Osteuropa ist laut dem Professor der Tag aber keine Befreiung gewesen, sondern der Beginn einer Knechtschaft unter sowjetischer Führung. Darauf verwiesen Staaten wie Polen und die baltischen Länder seit ihrem EU-Beitritt in den europäischen Gremien immer wieder, so der Slawist.

Mit großem militärischen Pomp, gewaltigen Paraden und einem Aufwand, der alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst, feiert Russland noch heute den „Tag des Sieges“ am 9. Mai. „Das hält eine Mobilisierung und eine Identifikationsbereitschaft in der russischen Bevölkerung aufrecht, zumindest bis in die jüngere Vergangenheit.“ Diese ist laut Kissel auch im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim aktiviert worden.

Vorstöße in Richtung eines deutschen Feiertages gibt es seit einigen Jahren. In Berlin wurde der 8. Mai 2020 anlässlich des 75. Jahrestags des Kriegsendes einmalig als Feiertag begangen. In einigen Bundesländern hat er den Status eines Gedenktages, seit vergangenem Jahr auch in Bremen. Im kleinsten Bundesland dürfen sich Arbeitnehmende unbezahlt freinehmen, um Gedenkveranstaltungen zu besuchen. Die Linke im Bundestag hatte 2019 einen Eintrag eingereicht, den „Tag der Befreiung“ bundesweit als offiziellen Gedenktag zu erklären.

GEDENKEN STATT FEIERN

Der Professor regt dazu an, gründlich zu überlegen, ob in Anbetracht der historischen Komponenten und der unterschiedlichen Erinnerungskulturen, der „Tag der Befreiung“ der richtige Ansatz sei. Und er macht einen anderen Vorschlag: Einen Gedenktag 8. Mai – der ohne Begriffe wie „Befreiung“, „Sieg“ oder „Niederlage“ auskommt. Dieser böte mehr Abstand, Raum für Reflexion und eben jene Erinnerung, die auch Weizsäcker forderte, sagt Kissel. Solch ein Tag hätte die Chance, differenziert und vielschichtig zu sein. Die Gesellschaft könnte innehalten und den Opfergruppen gedenken, so der Kulturwissenschaftler. Gleichzeitig könnten auch neue Debatten geführt werden. Von einem Feiertag würde der Professor gar nicht sprechen. „Das ist zu sehr von den traditionellen kirchlichen Festkalendern übernommen, in denen es dann wirklich etwas zu feiern gibt.“ Deshalb sei eine klare Trennung von Gedenk- und Feiertagen nötig.

Befindet sich Deutschland 76 Jahre nach Kriegsende in einer neuen Phase des kollektiven Erinnerns? Ja, glaubt Kissel. Schon allein, weil es immer weniger Zeitzeugen gibt, die „auf authentische Weise die Mahnung zum Gedächtnis und zur Erinnerung verkörpert haben“. Mit der Generationenabfolge ändert sich die Trägerschaft des kollektiven Gedächtnisses. Die junge Generation müsse lernen, das Erinnern weiterzutragen, ansonsten könnten Gedenkstätte und Rituale schnell erstarren und fremdartig werden, warnt der Professor. „Ich würde nie ausschließen, dass das geschehen kann. Das Vergessen ist der starke Gegenspieler der Erinnerung.“

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