„Du musst Schwung holen und dann den zweiten Fuß auf das Pedal setzen. Guck geradeaus, nicht auf das Rad.“ Hanna Taieb steht aus dem Hof der Grundschule am Halmerweg in Gröpelingen. Um sie herum kleine Hütchen in blau, gelb und orange, die sie mit ausreichend Abstand aufgestellt hat. Taieb ist Trainerin bei „Velo Go“, einem Angebot des Gesundheitstreffpunkt West. In zehn Tagen will sie acht Frauen das Fahrradfahren beibringen.
Ein Viertel aller Strecken legen Bremens Einwohner einen durchschnittlichen Werktag mit dem Fahrrad zurück. 450.000 Wege sind das. In keiner anderen deutschen Großstadt wird so viel geradelt wie in der Hansestadt. Doch nicht alle Bremerinnen und Bremer sitzen sicher im Sattel. „Es gibt Kulturkreise, da ist es nicht gern gesehen oder sogar verboten, dass Frauen Fahrrad fahren“, sagt Jette Klenke. Sie ist die Leiterin der Radschule.
Seit mehreren Jahren lernen Frauen in Gröpelingen, wie man radelt. Gut 50 Teilnehmerinnen absolvieren die drei Grund- und zwei Aufbaukurse jedes Jahr. Die Nachfrage: Ungebrochen groß, sagt Klenke. „Wir haben eine Warteliste von zwei Seiten.“ Das Angebot richtet sich an Frauen aus dem Bremer Westen. „Derzeit haben wir vor allem Teilnehmerinnen mit Fluchterfahrung in unseren Kursen “ Anfragen kämen aber aus dem gesamten Stadtgebiet – und von anderen Zielgruppen. „Wir überlegen, auch Kurse für die dazugehörigen Ehemänner anzubieten.“
Ausgestattet mit Rad und Helm stehen die Teilnehmerinnen in einer Schlange. Sie warten darauf, dass sie an der Reihe sind, um den Slalom-Parcours zu fahren. Sie unterhalten sich auf Deutsch und Arabisch, lachen, sprechen einander Mut zu. Auch Taieb muss hin und wieder ermutigen, bleibt aber bestimmt. „Doch, du schaffst das“, sagt sie zu einer der Frauen. „Du hast das gestern schon super gemacht.“ Überzeugt sieht die Teilnehmerin nicht aus – trotzdem tritt sie in die Pedale.
UNABHÄNGIG VON BUS UND BAHN
„In Syrien fahren Frauen kein Fahrrad“, sagt Jihan Tammi. „Aber jetzt lebe ich in Deutschland.“ Sie möchte ihren achtjährigen Sohn lieber mit dem Rad zur Schule begleiten als mit der Straßenbahn. Darum besucht die 40-Jährige den Kurs. Der Helm sitzt stramm auf ihrem orangefarbenen Kopftuch. „Mit Straßenbahn und Bus ist man sehr abhängig“, findet auch Zohra El Assad. „Außerdem ist die BSAG teurer geworden.“ Besonders für kurze Strecken lohne sich ein Rad, sagt die 51-jährige Marokkanerin. Zunächst aber wolle sie noch einen weiteren Kurs belegen. „Ich habe noch Angst und bin nicht sicher.“
Es gibt auch Teilnehmerinnen mit anderen Geschichten. Irmgard Eickmeier ist ihr Leben lang Fahrrad gefahren. Dann musste sie ihren Mann pflegen – und das Rad blieb für sechs Jahre im Keller. Jetzt möchte die 85-Jährige wieder in die Pedalen treten, der Kurs soll ihr die Sicherheit zurückgeben. „Du musst den Arm ausstrecken, bevor du abbiegst“, sagt Taieb zu Eickmeier. „Ich bin froh, wenn ich ihn überhaupt ausstrecken kann“, antwortet die 85-Jährige und lacht. Später wird Taieb ihr noch den Tipp geben, weniger ruckartig zu bremsen.
„Ich achte darauf, dass ich nur Deutsch spreche“, sagt Taieb. Wenn aber doch mal eine Anweisung unverstanden bleibe, wiederhole sie die Erklärung auf Arabisch. Taieb studiert Marinebiologie an der Hochschule Bremerhaven – und bringt seit diesem Jahr anderen Frauen das Radfahren bei. „Das sieht viel zu niedrig aus, komm mal her“, sagt sie und stellt den Sattel einer Teilnehmerin ein. Von April bis Oktober sind die Frauen unterwegs. Zunächst auf dem Roller, um ein Gefühl fürs Gleichgewicht zu bekommen. „Am vierten Tag geht's aufs Rad“, sagt Klenke. Zehn Einheiten absolvieren die Frauen insgesamt jeweils zwei Stunden, fünf weitere im Aufbaukurs. Theorieunterricht gibt es nicht; die wichtigsten Verkehrsregeln würden beim Fahren erklärt.
Ob die Teilnehmerinnen nach dem Kurs auch weiterhin aufs Rad steigen? „Wir bekommen viele Nachfragen, wo man denn günstige Räder kriegen kann.“ An diesem Tag absolvieren die Teilnehmerinnen ihre neunte Einheit. Die meisten sitzen mittlerweile sicher im Sattel, einige sind aber noch wackelig. Für alle Fälle liegt im Fahrradanhänger neben Hütchen und Kreide auch ein Verbandskasten. „Ganz ohne Sturz geht es nie“, sagt Klenke. „Aber meistens bleibt es bei einem Blechschaden.“