Seit den 80er Jahren kämpft die Landlosen Bewegung in Brasilien für eine Agrarreform. Dabei kann sie nur kleine Erfolge verzeichnen.
Brasilien - Eine schlecht aufgearbeitete Vergangenheit voller Sklaverei, Armut, Machtlosigkeit und der ständige Kampf ums Überleben. Das sind zentrale Themen des Romans „Torto Arado" (direkte Übersetzung: schiefer Pflug) des brasilianischen Schriftstellers Itamar Vieira Júnior. Der Roman erschien 2019 in Brasilien und wurde inzwischen zum Bestseller.
Er erzählt die Geschichte von zwei Schwestern, Bibiana und Belonísia, die auf dem Land in Brasiliens Bundesstaat Bahia aufwachsen. In einem Verhältnis von Knechtschaft bewirtschaftet ihre Familie ein kleines Stück Land, ein großer Teil des Angebauten müssen sie jährlich an die Landbesitzer abgeben. Die Kinder gehen kaum zur Schule, der Zugang zum Gesundheitssystem ist schwierig, ständig kämpfen sie gegen Trockenheit und Dürre. Der Roman greift dabei auch ein viel erzähltes Paradox der brasilianischen Gesellschaft auf: Landwirte und Landwirtinnen, die Nahrungsmittel anbauen, leiden oft selbst Hunger.
Durch einen Unfall verliert die eine der beiden Schwester in dem Roman als Kind ihre Zunge und damit auch die Fähigkeit zu sprechen und gehört zu werden. Damit steht sie sinnbildlich für arme, brasilianische Kleinbauern, die kaum eine Chance haben ihren Anliegen Gehör zu verschaffen.
Sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse in BrasilienWährend der Roman eine fiktive Geschichte erzählt, spielt er doch in einem historischen und sozialen Kontext, der in vielen Teilen Brasiliens bis heute Realität ist. Zwar wurde die Sklaverei in dem lateinamerikanischen Land bereits vor 1888 offiziell abgeschafft, noch immer Leben aber viele Brasilianer und Brasilianerinnen in Verhältnissen, die sich nicht all zu sehr von Sklaverei unterscheiden. In Brasilien wurde die Sklaverei bis heute nur mangelhaft aufgearbeitet, viele Machtverhältnisse gleichen noch immer den Zuständen der Kolonialzeit. Auch VW sieht sich aktuell schweren Vorwürfen ausgesetzt.
Ein solches Leben in Abhängigkeit beschreibt auch der Roman. Während die Protagonistinnen von Torto Arado diese Lebensverhältnisse am Anfang des Buches noch hinnehmen, hinterfragen sie dann im Laufe ihres Lebens immer mehr, ob eine solche Art von Arbeit gerecht ist. Eine Schwester kämpft am Ende aktiv gegen diese Art von Knechtschaft. Dieser Kampf lässt sich historisch in Brasiliens 80er und 90er Jahre einordnen: Die Militärdiktatur wird liberaler und mit der Landlosenbewegung beginnen in ganz Brasilien Kleinbauern ihre Rechte einzufordern. Viele von ihnen wurden in den Jahren der Diktatur von ihrem Land vertrieben und haben zu dem Zeitpunkt kaum noch das Nötigste zum Überleben. In dem Roman gibt es dabei ganz deutliche Referenzen zu realen Ereignissen: Während in dem Buch mehrere Menschen im Kampf für ihren eigenen Grund und Boden sterben, wurden in den vergangenen Jahrzehnten auch immer wieder Aktivistinnen und Aktivisten der Landlosenbewegung in Brasilien ermordet.
Landlosenbewegung in BrasilienDie Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (Movimiento sem terra, MST) kämpft in Brasilien seit den 80ern für eine Agrarreform. Sie soll gerade Kleinbauern ermöglichen auf einem Stück Land leben und es zu bewirtschaften. 1991 erhielt die Landlosenbewegung in Brasilien den sogenannten Alternativen Nobelpreis, den Right Livelihood Award.
Die Aktivistin Eliane Balbinotti sagt, dass sie schon in die Landlosenbewegung hineingeboren wurde. Sie ist 34 Jahre alt, lebt in der Staat Cascavel Bundestaat Paraná im Südosten von Brasilien und setzt sich besonders für Frauen innerhalb der Bewegung ein. Sie erklärt, was hinter der Bewegung steckt. „In Brasilien konzentriert sich sehr viel Land, auf sehr wenige Menschen", erzählt sie. Das lässt sich auch in Zahlen ausdrücken, etwas 10 Prozent der brasilianischen Bevölkerung besitzen rund 80 Prozent des Landes. 20 Großgrundbesitzer haben genauso viel Land wie mehr als 3 Millionen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen.
„Aber die Großgrundbesitzer sorgen nicht dafür, dass Essen auf den Tellern der Brasilianer landet", meint Eliane Balbinotti. „Sie produzieren hauptsächlich Soja und Mais für den Export. 70 Prozent der Lebensmittel, die in Brasilien konsumiert werden, kommen aus kleinbäuerlicher Landwirtschaft."
Ökologische Landwirtschaft steht immer mehr im MittelpunktDafür, dass auch diese Kleinbauern ein gutes Leben haben, setzt sich die Landlosenbewegung ein. „Wir besetzen zuerst ungenutztes Land und versuchen dann zu erreichen, dass wir es auch legal bewirtschaften können", erklärt Balbinotti. Viel Land in Brasilien liegt brach, wird von den Besitzern zur Spekulation gehalten. Die Landlosenbewegung versucht mit ihren Besetzungen die Behörden unter Druck zu setzen und so zu erreichen, dass das Land einen sozialen Nutzen bekommt und Großgrundbesitzer enteignet werden. Seit den 80ern hat die Bewegung damit durchaus Erfolge zu verzeichnen, rund 400.000 Familien haben so das Recht erhalten, ein Stück Land zu bewirtschaften und davon zu leben. Besonders die Regierung unter Präsident Lula Ignacio da Silva war der Bewegung zugetan. „Seit die Regierung Bolsonaro an der Macht ist, gibt es aber immer wieder Rückschritte", erklärt Eliane Balbinotti.
Der aktuelle Präsident Jair Bolsonaro ist bekannt dafür gerade Großgrundbesitzer in Brasilien zu unterstützen. Zunehmend fördere seine Politik auch, dass brasilianisches Land an ausländische Investoren verkauft werde, meint Balbinotti.
Während der Hauptfokus der Landlosenbewegung vor allem soziale Veränderungen sind, hat die Bewegung inzwischen auch Umweltaspekte im Blick. „Seit Anfang der 2000er konzentrieren wir uns immer mehr auf ökologische Landwirtschaft", sagt die Aktivistin Balbinotti. „Es geht nicht mehr nur darum anzubauen, sondern auch darum zu bewahren. Was haben wir davon, wenn wir unseren Kindern zerstörtes Land hinterlassen, auf dem nichts mehr wächst?". Heute ist die brasilianische Landlosenbewegung der größte Produzent von biologischem Reis in ganz Lateinamerika.
Der Autor und die LandlosenbewegungAuch das Leben von Autor Itamar Viera Júniors ist eng mit der Landlosenbewegung verknüpft. Der Geograf arbeitet für das Nationale Institut der Agrarreform (Incra) das eigentlich dafür sorgen soll, dass Landarbeiter ohne Boden Zugang zu Land bekommen. Landkonflikt und die Beziehung von Menschen zum Boden gehören also zu seinem Arbeitsalltag. Wahrscheinlich ist das ein Grund, warum er die Konflikte in seinem Buch so lebensnah einfangen kann.
Itamar Vieira Júnior ist inzwischen der meistverkaufte, lebende Schriftsteller in Brasilien. Er ist im nordöstlichen Bundesstaat Bahia in Brasilien aufgewachsen, wo auch sein Roman spielt. Für „Torto Arado" erhielt er in den vergangenen Jahren zahlreiche wichtige, brasilianische Literaturpreise. Im Sommer erscheint der Roman Torto Arado auch in der deutschen Übersetzung. Unter dem Titel „Die Stimme meiner Schwester" ist er dann ab dem 31. August im Buchhandel erhältlich.