3 abonnements et 6 abonnés
Article

28 Tote bei einem Einsatz: Warum Rios Polizei die tödlichste der Welt ist

Bei einem Anti-Drogen-Einsatz in Rio de Janeiro hat die Polizei 28 Menschen erschossen. Das war zwar die brutalste Intervention der Geschichte aber kein Einzelfall - denn Polizeigewalt ist in Brasilien strukturell.

Bei einem Polizeieinsatz in der vergangenen Woche starben in Rio de Janeiro 28 Menschen. Während die Polizei von Selbstverteidigung spricht, erklären viele Anwohner, es habe sich um Hinrichtungen gehandelt. Nun gehen Menschen auf die Straße und fordern ein Ende der Polizeigewalt.

Rio de Janeiro / Brasilien - Fotos von einem chaotischen und Blut verspritzten Kinderzimmer und Videos davon, wie riesige Mengen Blut weggeputzt werden - all diese erschreckenden Bilder werden in den sozialen Netzwerken unter dem Schlagwort „Chacina de Jacarezinho"(„Blutbad von Jacarezinho") geteilt und zeigen den traurigen Ausgang einer Polizeioperation in Brasilien. Am 6. Mai drang die Polizei in Rio de Janeiro für einen Anti-Drogen-Einsatz in das Armenviertel Jacarezinho ein, insgesamt starben dabei 28 Menschen. Es war der tödlichste Polizeieinsatz den Rio de Janeiro je erlebt hat. Die Polizei wollte 13 mit Haftbefehl gesuchte Männer festnehmen. Dafür drang die Polizei mit Panzerwagen, Hubschraubern und ausgerüstet mit automatischen Waffen in den frühen Morgenstunden in das Armenviertel ein. Laut Polizeiberichten schoss einer der angeblichen Drogendealer direkt am Anfang der Operation auf einen Polizisten. Danach sei die Situation eskaliert.

In den folgenden Stunden erschossen rund 200 Polizeikräfte 27 Menschen. Ob der Einsatz wirklich so abgelaufen ist, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Aussagen von Anwohnerinnen und Anwohner widersprechen der Schilderung der Polizei. Es gibt Hinweise, dass nach dem Einsatz nicht alle Beweise nach Vorschrift gesichert wurden. Viele Anwohnerinnen und Anwohner berichten von regelrechten Hinrichtungen, die Polizei erklärte, sich nur selbst verteidigt zu haben. „Wir wissen nicht wirklich, was passiert ist", sagt Rafael Alcadipani von der Nicht-Regierungs-Organisation „Fórum Brasileiro de Segurança Pública", die zur öffentlichen Sicherheit in Brasilien forscht.

Brasilien: Strukturelle Polizeigewalt - 1.245 Tote in einem Jahr in Rio de Janeiro

Auch wenn der dieser Anti-Drogen-Einsatz eskalierte und mehr Menschenleben forderte als je eine Polizeioperation zuvor in Rio de Janeiro, ist er keinesfalls ein Einzelfall. Allein 2020 starben 1245 Personen in der brasilianischen Großstadt durch Polizisten, im ganzen Land waren es 5.660. Zum Vergleich: Die deutsche Polizei erschoss 2019 14 Personen. Laut der brasilianischen Nicht-Regierungs-Organisation Fogo Cruzado war die Polizei für drei Viertel der größeren Schießereien der vergangenen fünf Jahre in Rio de Janeiro verantwortlich.

Besonders oft tödlich enden Anti-Drogen-Operationen. Den Drogenkrieg gibt es in Rio de Janeiros Armenvierteln, den Favelas, schon lange. Seit in den 1980ern sowohl der Kokainhandel zunahm, als auch eine immer größere Anzahl an Waffen in Favelas landete, eskaliert die Gewalt bei Einsätzen immer öfter, nicht selten enden die Einsätze tödlich. Dabei laufen nicht alle Brasilianerinnen und Brasilianer gleichermaßen Gefahr, sich eine Kugel von der Polizei einzufangen: „Junge, arme, schwarze Männer sind die Lieblingsopfer der Polizei", erklärt Rafael Alcadipani. Tatsächlich sterben gerade schwarze Männer aus Armenvierteln besonders oft bei Polizeieinsätzen, im vergangenen Jahr waren 86 Prozent der Opfer von Polizeigewalt schwarz. „Wir haben so auch eine Polizei, die die Reichen beschützt", erklärt Alcadipani.

Brasiliens Polizei: „Schlecht kontrolliert und schlecht bezahlt"

Genau erklären, warum die Polizeieinsätze in Brasilien immer wieder so eskalieren kann auch er nicht: „Die Polizei reflektiert natürlich immer auch irgendwo die Gesellschaft", sagt Alcadipani. „Eine gewalttätige Gesellschaft hat oft auch eine gewalttätige Polizei". Aber in Brasiliens Polizei laufe besonders viel falsch. „Unsere Polizei wird schlecht kontrolliert und schlecht bezahlt", sagt er. Statt im Gerichtssaal würden Probleme all zu oft auf der Straße gelöst. Der einzige Lösungsweg den die Polizei kenne sei gerade in Rio de Janeiro oft die Eskalation. „Die Polizisten sind überhaupt nicht darauf vorbereitet Situationen zu deseskalieren", sagt dazu Alcadipani.

„Sie kamen um zu töten", der britische Journalist Tom Phillips zeichnet ein ziemlich düsteres Bild von dem Polizeieinsatz in Jacarezinho:

"Human life was worth nothing here. It was a total massacre, a witch-hunt, a horror film I never thought I'd see in real life": our dispatch from #Jacarezinho after the deadliest police raid in Rio de Janeiro history https://t.co/Q4vN4new8R

- Tom Phillips (@tomphillipsin) May 11, 2021

Seit der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro regiert, haben blutige Polizeieinsätze quasi Legitimation von höchster Instanz: In der Vergangenheit hatte der Präsident einmal gesagt, man solle „Verbrecher wie Kakerlaken erschießen". Am vergangenen Sonntag nahm Bolsonaro auf die Schießerei in Jacarezinho Bezug und schrieb auf Twitter: „Wenn die Medien Drogendealer, die stehlen, töten und Familien zerstören, als Opfer bezeichnen, dann setzen sie sie mit normalen Bürgern, die ehrlich sind und Gesetze befolgen, gleich. Das ist eine Beleidung für die Bevölkerung, die schon lange Geisel des Verbrechens ist. Glückwünsch an die Zivilpolizei von Rio de Janeiro".

Vize-Präsident Hamilton Mourão sagte über die 28 Toten: „Die meisten Gauner". Ein großer Teil der Erschossenen, alles Männer zwischen 18 und 43, scheint tatsächlich ins Drogengeschäft verwickelt zu sein. Aber nicht alle. Da war zum Beispiel der 37-jährige Bruno Brasil, von dem seine Familie beteuert, dass er ein normaler Arbeiter war. Selbst verteidigen können sie sich nun alle nicht mehr.

Brasilien: Zweifel an Menschenrechten - „ein guter Bandit ist ein toter Bandit"

Auch wenn das Blutbad von Jacarezinho weltweit Entsetzen ausgelöst hat: Nicht alle Brasilianerinnen und Brasilianer verurteilen diese tödlichen Polizeieinsätze. Bis weit in die Mitte der Gesellschaft ist der Glaube verbreitet, dass „ein guter Bandit ein toter Bandit" sei. Dass auch immer wieder Kinder bei diesem Polizeieinsätzen sterben und nach dem Tod freilich auch kein Gericht mehr nachweist, ob die Erschossenen tatsächlich kriminell waren oder nicht, scheint dabei keine Rolle zu spielen. „Wenn diese Aussage wahr wäre, wäre Brasilien das friedlichste Land der Welt", sagt Rafael Alcadipani dazu.

Eng mit diesem Glauben verbunden sind auch große Zweifel am Sinn der Menschenrechte: Einige Brasilianer haben das Gefühl, dass sie hauptsächlich Kriminelle schützen. „Der Gedanke dahinter ist, dass du deine Menschlichkeit verlierst, wenn du ein Verbrechen begehst", erklärt Alcadipani. „und so im Zweifelsfall den Tod verdient hast, auch wenn es in Brasilien keine Todesstrafe gibt".

Ob das Vorgehen der Polizei verhältnismäßig war, wird nun noch untersucht. Fraglich ist beispielsweise, ob der Einsatz überhaupt hätte stattfinden dürfen: Schon im vergangen Jahr verbot Brasiliens oberster Gerichtshof derartige Polizeioperationen während der Pandemie, sie sollten nun bloß noch in absoluten Ausnahmesituationen stattfinden. Für viele Brasilianer ist allerdings längst klar, dass solche Einsätze aufhören müssen. Rafael Alcadipani fordert darum so schnell wie möglich eine flächendeckende Polizeireform. Am 13. Mai, dem Gedenktag zum Ende der Sklaverei, gingen in vielen Städten Menschen auf die Straße und forderten Gerechtigkeit für die Getöteten und das „Ende des Genozids an der schwarzen Jugend".

Polizeigewalt weltweit

Länder in denen die meisten Menschen von der Polizei und anderen öffentlich Behörden getötet werden, nach Toten pro Jahr und 10 Millionen Einwohner:

1. Venezuela 2. El Salvador 3. Syrien 4. Philippinen 5. Nicaragua 6. Jamaika 7. Trinidad und Tobago 8. Brasilien 9. Bahamas 10. Saint Vincent
Rétablir l'original