Erst gibt es unendlich viele Möglichkeiten, dann Kompromisse und irgendwann fragen wir uns: Lebe ich authentisch? So wie es mir entspricht?
Grace führte das Leben, das man
von ihr erwartete. Sie arbeitete in der Bankverwaltung, obwohl sie diese
Aufgabe innerlich nicht ausfüllte. Sie hielt ihrem Ehemann 50 Jahre lang die
Treue, obwohl er sie tyrannisierte. Sie zog zuhause geduldig die Kinder groß,
obwohl sie gerne die Welt bereist hätte. Die ganze Zeit ahnte sie, dass
irgendwo noch mehr auf sie warten könnte. Doch den Mut, danach zu suchen, hatte
sie nie: „Ich bin ein guter Mensch, ich wollte niemandem weh tun.“ Mit über 80,
am Ende ihres Lebens, hadert Grace mit ihrem Zaudern, ihrer Unentschlossenheit,
ihren Zweifeln – das berichtet Bronnie Ware in ihrem Buch 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Als Palliativpflegerin
begegneten Bronnie Ware viele Menschen wie
Grace. Patienten, die voll Reue auf ihr Leben blickten. „Von allem, was ich an
den Sterbebetten hörte und lernte“, schreibt die Australierin, „von allem, was
die Sterbenden rückblickend am meisten bereuten – dies war die häufigste
Aussage: Sie bedauerten, sich bei der Gestaltung ihres Lebens nicht selbst treu
gewesen zu sein.“ Sie hatten eines versäumt: so zu sein, wie sie sind.
„Dies über alles: Sei dir selber treu“, ruft uns Shakespeare in seinem Hamlet entgegen. Zerknirscht möchten wir auf den Boden blicken, wissend, dass wir dieser Aufforderung nur selten genügen. Dass es oft bei dem hehren Vorsatz bleibt: Man selbst sein, das eigene Leben leben. Der Schriftsteller Ödon von Horvath hallt da in unserem Kopf: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“ Bequemlichkeiten, Zwänge und Erwartungen halten uns davon ab, uns unseren „Gedanken, Emotionen, Bedürfnissen, Werten, Vorlieben, Überzeugungen etc. entsprechend auszudrücken“, was laut dem Lexikon der Psychologie nichts anderes meint als: Authentizität. Doch finden wir den richtigen Zugang zu uns selbst, kann es uns gelingen, das Leben neu zu gestalten. Mit großen Kehrtwenden – oder kleinen Veränderungen.
„Eine wesentliche Antriebskraft“
Authentizität – allein den Begriff auszusprechen, fällt schon schwer. Danach zu leben, oft noch schwerer. Nicht umsonst haben große Denker und Philosophen über die Jahrtausende hinweg gegrübelt, was es bedeutet, sein Leben nach dem „wahren Selbst“ auszurichten. Und auch die Psychologie beschäftigt sich immer stärker damit, wie es gelingen kann, authentisch zu leben. Denn: „Nicht man selbst sein zu können im Leben, ist quälend“, schreibt Stephen Joseph, Professor an der Universität von Nottingham, in seinem Buch Authentizität: Die neue Wissenschaft vom geglückten Leben. „Häufig liegt genau da die Wurzel der Probleme, denen Psychotherapeuten und Psychiater in ihren Kliniken begegnen. Dabei ist die Sehnsucht nach Authentizität nicht nur hilfesuchenden Menschen zu Eigen.“ Nach jahrelanger Forschung als einer der führenden Vertreter der Positiven Psychologie stellt Joseph fest: „Authentizität ist für uns alle eine wesentliche Antriebskraft.“
Aus gutem Grund: Eine Vielzahl von Studien der letzten Jahre hat belegt, dass sie uns verschiedenste positive Effekte beschert. Menschen, die ihr Leben als sinnvoll und authentisch bewerten, haben einen stabileren Selbstwert, ein höheres Wohlbefinden, eine größere Lebenszufriedenheit, erfüllendere Beziehungen, außerdem weniger Angst, weniger Aggressionen und weniger depressive Symptome. Und auch körperlich profitieren Menschen von einem selbstbestimmten, sinnhaften Leben: Sie werden älter, bleiben gesünder und leiden an weniger Krankheitssymptomen. Erleben wir hingegen eine Diskrepanz zwischen dem, was wir sagen und tun, und dem, was wir denken und fühlen, erzeuge das innerseelische Spannung und Stress, so Joseph. „Wenn wir Tag für Tag unauthentisch leben, fordert dies emotional einen hohen Tribut. Wenn wir versuchen, ein Leben zu führen, in dem unser Selbstgefühl nicht im Einklang mit der Realität steht, büßen wir unser Wohlbefinden ein, ja riskieren Depressionen und Angstzustände.“
Vollständiger Text auf psychologie-heute.de:
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