Im Norden Hamburgs, unweit vom Hamburger Flughafen, sitzt ein geziegeltes Gefängnisgebäude umrahmt von Stacheldraht. Im KZ Fuhlsbüttel folterten und töteten die Nazis bis April 1945 tausende Menschen, die sich dem Regime widersetzten oder aus anderen Gründen verfolgt wurden. Eines der Opfer war Fritz Solmitz. Die NS nahm den jüdischen Journalisten im März 1933 wegen einer Widerstandsrede gegen Hitler fest. Im September wurde er in seiner Zelle erhängt gefunden.
Brigitte Alexander war erst vier Jahre alt, als ihr Vater im KZ Fuhlsbüttel starb. Bis heute bleibt es ungeklärt, ob Solmitz zum Suizid getrieben oder ermordet wurde. In seinen Briefen, die Solmitz heimlich auf Zigarettenpapier schrieb und in seiner Taschenuhr versteckte, berichtet er von der brutalen Misshandlung durch die SS-Wachleute:
„Jeden Tag hört man jetzt Peitschenschläge und Schreie. Wie lange wird's dauern, bis ich wieder dran bin?"
Alexander wanderte 1938 mit ihrer Mutter und ihren drei Brüdern in die USA aus. Heute ist sie 90 Jahre alt. Mit der Familiengeschichte und dem Tod ihres Vaters, sagt sie, befasse sie sich aber erst seit 2000. „Lange schloss ich Deutschland aus meinem Leben aus. Mir war es aber wichtig, dass meine Familie ihre Geschichte kennt. (...) In den letzten 19 Jahren bin ich siebzehn Mal nach Deutschland gereist."
FINK.HAMBURG traf die Zeitzeugin mit ihrem Sohn Caleb Alexander und dessen Familie im Sommer 2019 in der KZ-Gedenkstätte Fuhlsbüttel. Im Interview erzählt Brigitte Alexander, wie sie die Zeit während des Kriegs erlebte − und warum es ihr so wichtig ist, jedes Jahr wieder nach Deutschland zu kommen.
Alexander: Mein Vater und ich hatten ein Spiel, als ich klein war. Ich wartete als Kind immer darauf, dass er von der Arbeit heimkam, und saß auf dem Bordstein vor unserer Haustür. Wenn ich ihn am Straßenende erblickte, bin ich schnell in sein Arbeitszimmer gerannt. Mein Vater Fritz hat dann immer so getan, als ob er nicht wüsste, wo ich bin. Das war unser tägliches Versteckspiel.
Nachdem er mich wieder unter seinem Arbeitstisch entdeckte, legten wir uns auf die Couch. Wir berichteten uns gegenseitig von unserem Tag und er erfand diese Kurzgeschichten, die er mir erzählte, bevor er sich für ein Nickerchen schlafen legte. Dieses tägliche Ritual zählt zu meinen Lieblingserinnerungen.
Alexander: Meine Mutter und ich besuchten ihn an einem Frühlingstag, 1933, im Gefängnis Lübeck-Lauerhof. Die NSDAP hatte zuvor im Februar das Reichstagsgebäude in Brand gesetzt und die Macht übernommen. Einen Monat später wurde mein Vater festgenommen. Die Nazis hingen ihm ein Schild mit der Aufschrift „Jude" um den Hals und trieben ihn durch die Stadt. Ich war zu dem Zeitpunkt vier Jahre alt.
Die Nazis hingen ihm ein Schild mit der Aufschrift „Jude" um den Hals
Als wir ihn in seiner Zelle besuchten, nahm mich mein Vater auf seinen Schoß. Ich weiß noch, dass ich kein Wort mit ihm sprach, weil ich wütend auf ihn war: darauf, dass er nicht nachhause kam.
Alexander: Mein Vater war den Nazis schon lange ein Dorn im Auge, er war ein engagierter Sozialdemokrat. Jahrelang arbeitete er für die Tageszeitung „Lübecker Volksbote" und half in der Bürgerschaft und bei den Jungsozialisten aus. Später lernte er den jungen Willy Brand kennen, dessen Mentor er wurde.
Als Hitler 1933 die Macht ergriff, gab es eine große Versammlung von knapp 10.000 Menschen. Es handelte sich um Sozialdemokraten und Kommunisten, die zum Widerstand gegen Hitler aufriefen. Der Widerstandskämpfer und Freund meines Vaters, Julius Leber, sollte vorsprechen, konnte es aber nicht. Also übernahm mein Vater die Aufgabe. Im März wurde die Redaktion des „Lübecker Volksboten" geschlossen. Die Nazis sperrten meinen Vater ein. Ab Mai war er dann im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert.
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