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Irren ist Wissenschaft

Ein Gastbeitrag von Jacqueline Berghahn und Lisa Marie Münster

9. November 1918, zwei Uhr mittags: Philipp Scheidemann öffnet das Fenster und tritt auf das Sims. Sein Blick wandert über die Menschenmenge, bevor er die deutsche Republik ausruft. Die Menschenmenge ist groß und das Gejubel laut, zeigen die Fotografien - vielleicht.

Szenenwechsel: Montag Abend, im Jahre 2018, gegen vier Uhr nachmittags, das Gebäude der „Forschungsstelle für Zeitgeschichte" an der Universität Hamburg: Der Beamer zeigt ebendieses Bild von Scheidemann. Wir Student/innen sind sicher, hier wird ein entscheidender Teil deutscher Geschichte abgebildet. Oder trügt der Schein? Ein Foto kann schon lange vor Zeiten Photoshops verschiedenen Fehlinterpretationen unterliegen, es ist also Vorsicht geboten. Schnell werden falsche Schlüsse gezogen, wenn die Fotografien undeutlich sind oder der Ton, welcher über den bewegten Bildern liegt, gefälscht oder nachbearbeitet ist.

Was also zeigt das Bild? Bei der genaueren Betrachtung des Gebäudes kann festgestellt werden, dass es sich hierbei um ein anderes Gebäude als den Reichstag handeln muss, da die Fassade eine andere ist. Doch von dort aus wurde den Dokumenten und Berichten zufolge die Republik ausgerufen. Nach Recherchieren der Ereignisse rund um den Tag der Ausrufung und einer Diskussion unseres Kurses, kann das Gebäude als das der Reichskanzlei identifiziert werden. So kann zum Beispiel durch einen Vergleich mit weiteren Fotographien ausgeschlossen werden, dass es sich um eine andere Seite des Reichstages handelt. Doch ein genaues Datum lässt sich nicht rekonstruieren. Wahrscheinlich zeigt das Foto Scheidemann bei einer Rede rund um den 9. November 1918. Mit Sicherheit sagen lässt es sich nicht.

Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Novemberrevolution und der erstmaligen Digitalisierung der zeitgenössischen Quellen durch das Bundesarchiv haben wir Student/innen uns im Rahmen des Quellenkurses „Kriegsende und Neuanfang: Die frühen Jahre der Weimarer Republik" der Universität Hamburg im Wintersemester 2017/2018 unter der Leitung von Dr. Marcel Bois mit den Quellen aus der Zeit von 1918 bis 1921 kritisch beschäftigt. Ein Exkurs ins Bundesarchiv in Berlin stellte den praktischen Bezug her, bot Einblick in die Arbeit von Archiven und zeigte bei einer persönlichen Führung nicht nur Originalquellen, sondern auch die Herausforderungen an die Archivare.

Im Kurs selber wurden aus dem digitalisierten Fundus des Bundesarchivs für genauere Betrachtungen zahlreiche Quellen hinzugezogen. So wurden unter anderem Plakate, persönliche Briefe, Partei- und Organisationsakten sowie visuelle Quellen vorgestellt und untersucht. Die Herausforderungen einer jeden Quelle, ihrer Charakteristika, der Umgang mit ihr und die Analyse zeigten umso deutlicher am Ende: Nichts ist, wie es scheint.

So kann auch die Fotografie gefunden werden, die Scheidemann auf dem Balkon des Reichstages zeigt, unter ihm eine jubelnde Menge. Auf die Gesamtgröße der Menge lässt sich nicht schließen, dafür ist der Ausschnitt zu klein. Durch gemeinsame Rekonstruktion im Kurs und mit Hilfe des Bundesarchivs gelang es, Missverständnissen entgegenzuwirken und über die Inkorrektheit der ersten Vermutungen aufzuklären.

Dank des Seminars konnten wir einen guten Überblick über die Quellenarten gewinnen und im Bundesarchiv die Vielfalt an zur Verfügung stehenden Quellen kennenlernen. Hier ist bei der Betrachtung Vorsicht geboten. Immer wieder - und auch schon zur damaligen Zeit - versuchte man aktiv zu verfälschen, beispielsweise durch das Retuschieren von Personen. Jedoch kann durch die kritische Betrachtung und eine ausführliche Recherche ein fundierter und qualitativer Wissenschaftsbeitrag geleistet werden.

Lesen Sie zum Thema „Datierung von audiovisuellen Medien" auch den Beitrag„Es lebe die deutsche Republik!" in unserem Quellenportal.
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