Wenigstens einer ist schon fertig. Der Weihnachtsbaum steht, die Lichterkette leuchtet, und gleich werden auch die Wunschzettel hängen. Etwa 15 Kinder fädeln sie über die Zweige. Engel, Sterne und Tannenbäume, alle laminiert, gelocht und mit Bändern versehen. Ein Kind wünscht sich, dass die Umweltverschmutzung aufhört. Ein zweites will einen Monstertruck. Ein drittes Kind schreibt: "Ich wünsche mir, dass es kein Corona mehr gibt und wir wieder zusammen spielen können."
Endlich wieder zusammen zu sein: Damit das wenigstens an Weihnachten klappt, steht Kerstin Sohn, 57, am ersten Adventssonntag bei zwei Grad neben dem Wunschbaum auf einer Wiese zwischen Kirche und Kita. In drei Wochen soll hier richtig was los sein. Dann nämlich will die evangelische Philippus-Gemeinde in Berlin-Friedenau dort Heiligabend feiern. Beim Umweltamt hat Kerstin Sohn eine Veranstaltung mit bis zu 200 Personen angemeldet. Rein rechtlich ist das möglich. Solange die Abstände eingehalten werden, gibt es für Gottesdienste in Berlin keine Personenbeschränkung. Und trotzdem: Wie kann das gehen, mit Corona?
Ganz genau weiß Kerstin Sohn das an diesem Tag auch noch nicht. Sohn, kurze rote Haare und ein lautes Lachen, leitet eine Taskforce: Sie ist eine von acht Ehrenamtlichen, die am Heiligabend zwei Gottesdienste in der Philippus-Kirche organisieren. Sechs Frauen und zwei Männer bilden den harten Kern. Ein Fest, ein Virus und kein Pfarrer - so geht die Kurzformel, die gerade ihre Freizeit bestimmt. Die Philippus-Nathanael-Gemeinde hat zwei Kirchen, früher gab es dort auch zwei Pfarrer. Nun ist einer weggezogen. Erst im Januar wird die Gemeinde wieder von einem zweiten, neuen Pfarrer betreut werden. So hält an Weihnachten zwar ein Pfarrer im Ruhestand Gottesdienste in der Philippuskirche - drinnen dürfen dann aber höchstens 45 Personen sein. Nicht genug, fanden viele in der Gemeinde und nahmen die Sache selbst in die Hand. Nachdem Ostern schon ausfiel, soll nun nicht auch noch Weihnachten platzen. Kerstin Sohn sagt: "Viele Menschen sind jetzt so einsam, die brauchen einfach Licht."
Für den Heiligabend haben sie und ihr Team deswegen drei Szenarien entwickelt. Bleiben die Corona-Zahlen stabil oder sinken, greift Plan A. Dann führen sie vor der Kirche ein musikalisches Krippenspiel auf. Steigen die Zahlen stärker, kommt Plan B ins Spiel. Dann wird eine Probe aufgezeichnet und auf die Außenmauer der Kirche projiziert. Plan C passt eigentlich immer: Give-aways für zu Hause.
Kerstin Sohn hofft auf Plan A. Mit ihrem Team stellt sie sich vor den Buggy-Schuppen. Mitten in der Kälte, auf der Wiese zwischen Kita und Kirche, malen die Gemeindemitglieder sich den Heiligabend aus. Wenn alles gut geht, wird im Schuppen am 24. die Krippe stehen. Am Baum, so geht Plan A, wird die Kindergärtnerin Jenny Omilade noch mehr Wunschzettel aufhängen. Überall im Hof werden Familien der Weihnachtsgeschichte lauschen, die dank 250 Meter Kabel aus Boxen schallt. Sie werden sich dabei an den Kerzen platzieren, mit denen eine der Kirchenältesten, Christiane Bockisch, die Abstände markiert. Liturg Günter Becker wird die kürzeste Predigt seines Lebens halten - aber auch in drei Minuten das richtige Gefühl rüberbringen. Klaus Wittmann, ein Historiker, wird die Weihnachtsgeschichte in zwölf Minuten schaffen und die Studentin Christiane Riese mit dem Kinderchor 15 Minuten singen. Gerade so lange wie erlaubt.
Das Schwierigste ist, an alles zu denken: Sprühkreide, Parkplätze, ein Zelt, Abstände.
Vor allem aber wird es weder schneien noch regnen. "Wenn Schnee, dann bitte erst ab 16 Uhr", sagt Kerstin Sohn vor dem Schuppen.
Schneit es früher, verlängert das die To-do-Liste mit einem Schlag. Dann braucht es ein Zelt. Wenn ein Zelt steht, müssen singende Kinder mehr Abstand voneinander halten. Dann ist unklar, ob darin alle Platz hätten. Kerstin Sohn, die am 24. alles koordiniert, müsste dann auch noch Schnee schaufeln. Sprühkreide soll die Wege im Hof markieren. Die gekaufte ist weiß. Unsichtbar auf Schnee.
"Das Schwierigste ist wirklich, an alles zu denken", sagt Kerstin Sohn. Seit im Herbst klar wurde, dass der verbleibende Gemeindepfarrer an Heiligabend nur eine der beiden Kirchen besuchen kann, arbeitet Sohn jeden Tag an der Vorbereitung. In langen Mails listet sie erledigte und offene Aufgaben auf. Letztere werden an diesem Sonntag wieder mehr: Sprühkreide in anderer Farbe finden, Anwohner bitten, die Parkplätze auf dem Gelände freizulassen, klären, ob nicht doch ein Junge den Josef spielen würde.
Warum tut Kerstin Sohn sich das an? Sie arbeitet als Fallmanagerin im Jobcenter. Ein Beruf, der nach Auslastung klingt. Sie betreut Wohnungslose und psychisch Kranke. Menschen in der Krise, die sich an Weihnachten oft allein fühlen. Jetzt aber sind alle ein Stück weit in der Krise - und an Weihnachten viele allein. Kerstin Sohn findet: "Wir müssen jetzt einfach im Rahmen der Möglichkeiten etwas machen. Um sichtbar zu sein und den Menschen irgendwas anbieten zu können."