Hamm - Wenn viele junge Leute durch viele europäische Länder reisen, wächst Europa zusammen - so argumentieren Politiker. Seit 2018 verlost die Europäische Kommission Interrail-Tickets, mit denen man 31 europäische Länder bereisen kann. Eins ging an Lilly Bittner aus Hamm: Hier berichtet sie von ihrer Reise.
Ich halte mein Interrail-Ticket in den Händen, gültig für sieben Fahrten in einem Monat. Eine Freundin von mir kauft sich ein Ticket und kommt mit. Unsere Euphorie ist groß. Ich freue mich darauf, einfach in den Zug zu steigen und an sechs Orte zu reisen, an denen ich noch nie war, frei zu sein.
Doch schnell kommt die Ernüchterung. So einfach wie erhofft funktioniert das freie Reisen in der bürokratischen EU nicht. Wir wollen was sehen, haben wenig Zeit, die EU ist groß - also sind wir auf Schnellzüge angewiesen. Die können wir außerhalb von Deutschland nur mit Reservierungen nutzen. Könnte man diese Reservierungen unterwegs mit dem Smartphone vornehmen und diese auf dem Handy zeigen, könnten wir weiter spontan reisen. Das geht aber nicht. Die Reservierungsbestätigungen müssen wir auf Zetteln vorzeigen - und selbst die Bestätigungen, die wir per E-Mail bekommen haben, ausdrucken. Alle reden von Digitalisierung, aber wo ist sie, wenn man sie braucht?
Außerdem sind die Reservierungen fast halb so teuer wie das Ticket selbst, das für Reisende unter 28 Jahren 258 Euro kostet, wenn man es nicht gewinnt. Unsere Euphorie ist dahin - und die Reise geht los.
Wichtige Erkenntnis: Lebe im MomentErster Stopp, Paris. Auf dem Weg dorthin sitze ich neben meiner Freundin im Zug. Wir sind befreundet, seit ich denken kann. In der letzten Zeit haben wir uns selten gesehen, wir haben beide Verpflichtungen. Deshalb habe ich mich so auf die Reise gefreut. Mal keine Verpflichtungen, mal nicht zu viel nachdenken. In Paris absolvieren wir das Touri-Programm: Arc de Triomphe, Eiffelturm, abgebrannte Notre Dame, Apérol Spritz.
Dann Barcelona. Schnell geht das: Zwei Tage und mehr als 1000 Kilometer später liegen zwischen den Metropolen. Eigentlich bräuchten wir jetzt Urlaub vom Paris-Sightseeing, das bietet Barcelona mit seinen lebendigen Gassen nicht. Dafür eine wichtige Erkenntnis: Ich muss Dinge auf mich zukommen lassen. Eigentlich plane ich gern, stelle mich gedanklich auf das ein, was vor mir liegt. Das geht nicht auf einer Reise, die uns im Zwei-Tages-Takt an neue Orte bringt. Ich übe, mich voll auf den Moment einzulassen.
Dann sind wir schon wieder in Frankreich - in einer kleinen Stadt an der Côte d'Azur. Hier bekomme ich Entspannung und Sonnenbräune. Wir hätten nicht erwartet, dass es hier so schön ist. Daher haben wir hier wegen unseres Reiseplans auch nur einen Tag. Notiz an mich selbst: Siehst du, man kann nicht alles planen.
Die Folgen des KlimawandelsEs geht weiter nach Corniglia, eine kleine Stadt in Italien. Dorthin reisen wir mit „Bimmelbahnen". Es geht nur langsam voran - doch hier merke ich, wie schön Zugfahren ist. Ich sehe, woher wir fahren, kann die Natur bewundern. Wir haben Zeit zum Lesen, Musikhören, Kartenspielen, Schlafnachholen.
In Corniglia erlebe ich, wie wichtig es ist, umweltfreundlich zu leben. Als wir zum Strand gehen wollen, kommt ein Schock - den Strand gibt es nicht mehr! Ein Einheimischer erklärt uns, dass er wegen des steigenden Meeresspiegels verschwunden ist. Der Mann zeigt uns 40 Jahre alte Bilder von einem Strand mit lebendiger Promenade, heute sind es nur noch Ruinen.
Nächster Stopp: Gardasee. Wir haben ein Apartment für uns und genießen nach fast zwei Wochen Hostel-Leben die Privatsphäre. Uns fällt auf, dass es gar nicht so schlecht war, alles im Voraus zu buchen. So müssen wir uns jetzt keine Sorgen darum machen, wo wir schlafen, haben gute Unterkünfte, die „Last-Minute" wahrscheinlich ausgebucht wären. Am Gardasee können wir richtig abschalten, bevor es schon zu unserem letzten Stopp geht: nach Prag.
Unterschiede im Lebensstandard15 Stunden dauert die Fahrt. Wir haben einen Nachtzug genommen, schlecht geschlafen und kommen mit leerem Magen an. Was wir nicht geplant haben: In Prag kann man nicht mit Euro zahlen, sondern nur mit Tschechischen Kronen. Wir müssen also erst einen gebührenfreien Geldautomaten finden, bevor wir uns Essen kaufen können. Hier merke ich, was der Euro wert ist.
Architektonisch erinnert mich Prag an Paris. Der Lebensstandard unterscheidet sich jedoch sehr. In Prag haben wir ein Drei-Gänge-Menü inklusive Getränken für 6 Euro bekommen. So viel hat in Paris ein Apérol Spritz in der Happy Hour gekostet. In Prag begegne ich auffällig vielen abgestürzten Menschen - Partyurlaubern, Obdachlosen. Das ist die Kehrseite von günstigem Alkohol und Drogen, deren Eigenkonsum hier legal ist. Dabei hat Prag so viel mehr zu bieten als das. Die Stadt ist wunderschön.
Alles Schöne hat ein Ende. So sitze ich nach zweieinhalb Wochen Urlaub und zwei Tagen, sechs Stunden und 51 Minuten Fahrtzeit im Zug in Hamm.
Schienen, die nicht nur Europa verbindenDie Reise hat mich fasziniert. Sie hat mir gezeigt, wie wunderschön und vielfältig Europa ist. Große Städte, kleine Buchten, bunte Häuser, grüne Berglandschaften. Und sie hat meine Freundin und mich enger zusammengeschweißt. Interrail verbindet - mich hat es mit Europa verbunden, mit meiner Freundin und mir selbst.