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Wie viel Freiheit ist erlaubt?

Sichere Kita Wie viel Freiheit ist erlaubt?

Es fing mit einer einfachen Frage an: "Sagt mal, wie ist der Zugang in euren Kitas eigentlich geregelt?", schrieb Elisabeth in einem Online-Forum. Meine erste Reaktion war innerliches Kopfschütteln. Meine Güte, um was man sich alles Gedanken machen kann. In der Kita meiner Dreijährigen läuft das so: Klinke runter, Tor auf.

Ohnehin ist die Grundhaltung bei uns in vielen Dingen ziemlich lässig. Zweijährige schneiden Gurken, Vierjährige bauen Bretterbuden, Fünfjährige spielen allein im Garten. Das Gelände ist umzäunt, abgeschlossen ist es nie. Diese ganze Freiheit, das liebe ich sehr. Doch dann sehe ich in dem Online-Forum die vielen Antworten und komme ins Grübeln. Während unsere Kinder in der freien Prärie spielen, scheinen andere Einrichtungen eher nach dem Prinzip Fort Knox zu verfahren. Ich lese von Chipkarten und Zahlencodes. Ist das, was ich immer für normal hielt, gar nicht so normal?

Die Zugangsfrage ist für mich der Eintritt in eine ganz neue Recherche. Obwohl ich seit zehn Jahren Kinder in der Kita habe, frage ich mich zum ersten Mal: Wo genau liegt eigentlich die Grenze zwischen lässig und fahrlässig? Und überhaupt: Was heißt überhaupt Sicherheit im Kita-Alltag?

Das Kita-Personal entscheidet

Einer, der es wissen muss, ist Fred Babel, Leiter des Sachgebiets Bildungseinrichtungen der Unfallkasse Nord. Die Unfallkassen in Deutschland versichern unter anderem Kinder in Betreuungseinrichtungen und bilden pädagogische Fachkräfte zum Thema fort. "Für uns bezeichnet Sicherheit in Kindergärten einen Zustand, der frei ist von unvertretbaren Risiken. Das sind erfahrungsgemäß vor allem die, die zu schweren oder tödlichen Unfällen führen können", sagt Babel. Dann fügt er etwas Erstaunliches hinzu: "Kinder haben auch ein Recht auf blaue Flecken!" Für die Entwicklung seien Unfälle in einem gewissem Rahmen sogar wichtig. "Wie sonst lernen Kinder laufen, wenn nicht im Sinne des Wortes von Fall zu Fall?!"

Wo genau der Grat zwischen vertretbarem Risiko und Leichtsinn verläuft, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Bei einigen Punkten liegt es auf der Hand: Sie werden durch Verordnungen und Normen geregelt, etwa für Spielgeräte. Viel Alltägliches aber ist verhandelbar: Auf Bäume klettern, mit scharfen Gegenständen arbeiten oder allein und unbeobachtet im Garten spielen - all das kann auch im Kindergarten durchaus möglich sein. Dafür gibt es kein Gesetz, oft nicht einmal eine konkrete Richtlinie. Zum Thema Aufsicht etwa urteilte der Bundesgerichtshof 2012, das Maß der gebotenen Aufsicht richte sich "nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie danach, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann" (AZ: VI ZR 3/11).

Es ist also eine Entscheidung des Personals "und damit eine tägliche Gratwanderung", sagt Michaela, Erzieherin in einer Kita in der Nähe von Münster. Wie hoch die Kinder klettern, wie weit sie sich von ihr entfernen dürfen, entscheide sie je nach Situation. Vom einfachen Vermeiden vermeintlicher Gefahren hält sie nichts: "Kinder müssen doch lernen dürfen, mit gefährlichen Situationen umzugehen. So ist ja auch das Leben."

Um eine Entscheidung zu treffen, nutzen Erzieherinnen und Erzieher etwas, das Babel Profiwissen nennt. Wer mit Kindern arbeitet, brauche den Blick für ernsthafte Gefahren und Gelassenheit für kleine Unfälle. Und das richtige Gespür für die Dynamik in der Gruppe. "Es geht um den Max-und-Moritz-Faktor einer Gruppe", sagt Babel. Gemeint sind damit in Anlehnung an Wilhelm Buschs Geschichten der Anteil jener Kinder, die sich allerlei Verrücktheiten einfallen lassen - und deshalb besondere Beaufsichtigung brauchen oder manche Aktivitäten eben unmöglich machen. Gurken schneiden und Buden zimmern? Hängt von den Mäxen und Moritzen der Gruppe ab. Beim Arbeiten an der Kreissäge hat allerdings auch Babel einer Einrichtung schon mal eine generelle Absage erteilt.

Ohne Vertrauen geht es nicht

Doch das Thema Sicherheit umfasst noch viel mehr als Spielgeräte-Normen, Treppenschutzmaßnahmen und Profiwissen. Es geht auch um den Schutz vor Übergriffen des Personals, vor körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt. Dazu kann schon gehören, Kinder zu ignorieren oder sie nicht rechtzeitig zu wickeln. Auch davor müssen Kinder geschützt werden. Weil wir Eltern aber selten überblicken, welche Verordnungen eingehalten werden, welche Entscheidungen Erzieherinnen und Erzieher treffen, wie sie mit den Kindern sprechen und was sie ihnen zu essen geben, brauchen wir etwas Wichtiges: Vertrauen.

Genau das fehlt Elisabeth, der Frau aus dem Online-Forum, inzwischen. Ich habe ihr geschrieben, nachdem sie mit ihrer Frage meine Recherche ins Rollen gebracht hatte. Sie erzählt von ihrer Situation: "In unserer Kita hier in Dresden spielen die Kinder oft unbeaufsichtigt im Eingangsbereich. Der liegt im Hinterhof, ist aber für alle zugänglich. Die Erzieherinnen sind zwei Etagen weiter oben. Wenn ein Kind rausläuft oder ein Erwachsener einfach die Einrichtung betritt, kriegt das niemand mit." Es überrasche sie selbst, aber inzwischen stellt sie sich schon die Frage: "Wie sicher ist meine Tochter hier eigentlich?"

Elisabeth spricht noch ein weiteres, vielleicht sogar entscheidendes Problem an. Von der Kita-Leitung fühlte sie sich mit ihren Bedenken nicht ernst genommen. Dabei empfehlen selbst die entspanntesten Experten eine gewisse Zugangsregelung. Doch wer den Mund aufmacht, über dem schwirrt schnell der Begriff Helikopter. Die Gefahr der Kindesentführung ist glücklicherweise verschwindend gering. Doch ist das Bild erst einmal im Kopf, geht es so schnell auch nicht wieder weg. Ob berechtigt oder nicht - Ängste und Sorgen sind nun einmal etwas Hochindividuelles und selten mit Zahlen niederzuringen. Entscheidender ist, wie wir mit diesen Sorgen umgehen.

Gerade beim Thema Sicherheit sei der Dialog mit den Eltern sehr wichtig, unterstreicht Sabine Urban, Referentin im Bereich Kinderhilfe beim Deutschen Roten Kreuz, einem der großen freien Träger von Kindertagesstätten der Bundesrepublik. Sorgen der Eltern würden ernst genommen, versichert sie, fügt aber hinzu: "Alle Wünsche können und wollen wir nicht erfüllen." Videoüberwachung etwa, wie es in den USA gang und gäbe ist und auch hierzulande schon von einzelnen Eltern gefordert würde, komme allein aus Datenschutzgründen in den deutschen DRK-Einrichtungen nicht infrage, sagt Urban.

Die eigenen Ängste hinterfragen

Ohnehin würden weder Kameras noch Fußfesseln zu einem besseren Gefühl der Eltern beitragen, glaubt Katrin Röntgen, Kommunikationstrainerin und Job-Coachin aus Münster. Viel wichtiger sei Transparenz. Erzieherinnen und Erzieher sollten Gesprächsgelegenheiten nutzen, um deutlich zu machen, wie sie mit dem Thema Sicherheit verfahren. "Die Sorgen der Eltern müssen ernst genommen werden - auch wenn es manchmal mühsam ist."

Sind Eltern unsicher, ob ihre Sorgen angemessen sind, können sie sich fragen: Teilen andere Eltern meine Sorgen? Oder sehen die das ganz entspannt? Das könne ein Hinweis auf den eigenen Helikopter-Faktor sein, sagt Röntgen.

Mein eigener Helikopter-Faktor ist immer noch sehr gering, bilde ich mir ein. Noch immer bringe ich meine Tochter mit einem guten Gefühl in die Kita. Doch so ganz scheint mich die Recherche dann doch nicht loszulassen, immerhin habe ich dem Kita-Vorstand mal ein paar Links weitergeleitet. Bald gibt es für unsere Kita einen Neubau mit riesigem Außengelände. Die freie Prärie wird also bleiben, nur ein neues Tor mit abschließbarer Klinke, darüber könnten sie ja mal nachdenken.

Größte Gefahr

Eltern unterschätzen das Risiko für ihre Kinder im häuslichen Umfeld und überschätzen die Gefahr in Betreuungseinrichtungen, wie die Initiative Kindersicherheit herausfand. 60 Prozent aller Unfälle mit Kindern passieren zu Hause. Wichtig zu wissen ist aber auch: Unfallzahlen und Sterberaten gehen seit Jahren zurück!

Aufgepasst!

Es gibt unzählige kleine und große Unfallgefahren im Kita-Alltag. Hier ein paar Beispiele, bei denen das Personal besonders achtsam sein muss

* Ob Kordeln an Pulli oder Jacke, ein umwickelter Schal, das Band eines Rollos oder ein geknotetes Seil an der Rutsche - was auch immer sich ein Kind um den Hals wickeln kann, muss weg.

* Alles ab erster Etage aufwärts ist eine Gefahr für kleine Kinder. Fenster zum Beispiel brauchen daher entsprechende Sicherungen.

* Um sie vor dem Ersticken zu schützen, müssen Erzieher bei kleinen Kindern immer dabei sein, wenn mit Kleinteilen hantiert wird, etwa beim Essen oder beim Spiel im Bohnenbad.

* Kleinkinder auf dem Wickeltisch bitte nie aus den Augen lassen.

* Schon wenige Zentimeter tiefes Wasser kann zur tödlichen Gefahr werden. Daher müssen etwa Regentonnen verklammert oder verschraubt werden. Beim Baden oder Planschen müssen Kinder ununterbrochen im Blick eines Erwachsenen sein.

* Wegen möglicher Verbrühungen sind Fläschchenwärmer und Wasserkocher in Krippen tabu. Selbst Heißgetränke, die Erzieherinnen im Gruppenraum trinken, sollten durch entsprechende Sicherheitsbecher für die Kleinen unzugänglich bleiben.

* Substanzen wie Spülmaschinentabs, Reinigungsmittel oder auch Essig müssen außerhalb der Reichweite von Kindern aufbewahrt werden.

Alle genannten Gefahrenquellen gibt es natürlich nicht nur in der Kita, sondern auch zu Hause. Wie eine Kita sicherheitsgerecht gestaltet werden kann, findet ihr auf der Seite sichere-kita.de der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen.

Voll versichert

Kinder in Betreuungseinrichtungen sind über die Unfallkassen versichert. Im Falle eines Unfalls während der Betreuungszeit oder auch auf dem Weg in die Kita übernehmen die Unfallkassen die Behandlungskosten und ggf. Rentenzahlungen.

Kaum Kontrolle

Der TÜV prüft die Spielgeräte, die Landesjugendämter erteilen die Betriebserlaubnis einer Einrichtung - zu Beginn. Aktiv schreiten sie in der Regel nur ein, wenn es Meldungen zu Fehlverhalten gibt. Manchmal schließen sie auch Einrichtungen, weil sich Schimmel durch die Wände frisst oder der Personalschlüssel nicht stimmt.

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