Ricardo Semler ist Geschäftsführer und Mehrheitseigner von Semco Partners. Der Konzern ist in verschiedenen Branchen tätig, darunter im Dienstleistungssektor und im produzierenden Gewerbe. Semler erlangte Bekanntheit, weil er sein Unternehmen seit über 30 Jahren radikal demokratisch führt. So gibt es beispielsweise keine Geschäftspläne, keine Personalabteilung und keine Anwesenheitspflicht. Über seine Erfahrungen hat Semler mehrere Bücher veröffentlicht. Bei der diesjährigen New Work Experience von Xing war er einer der Key Speaker.
CAPITAL: Herr Semler, seit knapp 40 Jahren führen Sie die Semco Group nach dem Prinzip der industriellen Demokratie. Was ist deren Ziel?
RICARDO SEMLER: Ich würde sagen, dass industrielle Demokratie eher ein Mechanismus oder Werkzeug ist und nicht das ultimative Ziel. Denn das Ziel ist es, einen Arbeitsplatz zu schaffen, an dem die Menschen die bestmögliche Balance zwischen persönlichem Talent und Interesse und dem, was es braucht, um kollektiv an einem vorgegeben Ziel zu arbeiten, finden. Es geht also viel um Stakeholder Alignment und darum, dass Mitarbeitern der Raum gegeben wird, für sich selbst Entscheidungen zu treffen.
Welche Erkenntnis steht dahinter?
Im Grunde geht es darum zu verstehen, dass Menschen, die kein Mitbestimmungsrecht haben an dem, was sie tun und wie sie es tun und die keine Freiheit besitzen, Dinge zu verändern, sich nie gänzlich für eine Firma einsetzen werden. Wenn es zudem keine Transparenz gibt und den Mitarbeitern wichtige Informationen fehlen, dann werden sie niemals wirklich an die Firma glauben. Im Endeffekt werden diese Mitarbeiter weniger interessante Ergebnisse und auch eine weniger lukrative Firma generieren. Industrielle Demokratie ist also vor allem ein Mechanismus, um aufzuzeigen, dass es sehr viel bessere und organischere Wege gibt, wie Menschen auf der Arbeit interagieren können als das klassische militärbasierte System.
„Mitarbeiter reagieren auf den Wandel zunächst mit Sorge“
Ricardo Semler
Wieso haben Sie sich damals entschieden, Ihren Management-Ansatz zu verändern?
Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, 30 oder 40 Jahre lang Menschen dazu zu zwingen zur Arbeit zu kommen, nur damit sie dort sitzen und das tun, was ich will. Warum sollte man Menschen in eine Arbeitssituation drängen, die sich ihnen auch ganz natürlich erschließen würde, wenn sie die Gelegenheit hätten, die Arbeit so zu gestalten, wie sie es selbst wollen? Der neue Management-Ansatz war eine Reaktion auf diese Gedanken.
Wie haben die Mitarbeiter reagiert?
Mitarbeiter reagieren auf diese Art von Wandel zunächst mit der Sorge, dass dieser entweder nicht wahr oder nicht nachhaltig ist. Viele waren am Anfang misstrauisch. Menschen denken doch immer, dass hinter so einer Entscheidung noch etwas anderes stehen muss. Warum sollte ein Chef sonst nachsichtig sein, was Arbeitszeiten und Arbeitsformen angeht? Diese Skepsis verfliegt allerdings schnell, wenn die Mitarbeiter merken, dass es tatsächlich Transparenz gibt und dass Zahlen und Information vorliegen. Sobald die Mitarbeiter also verstanden haben, dass dieser Wandel dauerhaft ist, reagiert praktisch niemand mehr ablehnend.
Die Fluktuation im Unternehmen ist verschwindend gering
Wie leitet man eine Firma auf der Grundlage so weniger Regeln? Und welche Regeln gibt es überhaupt noch?
Eine Firma mit wenigen Regeln zu leiten, ist gar nicht so schwer. Ich würde eher sagen es ist anders herum: Ich glaube, wenn etwas viele Regeln hat, bremst das einen und am Ende folgt man nur noch einer Routine. Selbst, wenn man in die falsche Richtung geht, folgt einem dann jeder mit dem Gefühl ‚Wenigstens tue ich, was man mir sagt oder von mir erwartet’. Unsere wenigen Regeln halten wir in einem Manual fest. Darin steht dann etwas über den Umgang miteinander, wie sich das Budget zusammensetzt und wie generell alles funktioniert. Das Manual erstellen wir immer für einen Zeitraum von sechs Monaten. In den 40 Jahren haben wir also wahrscheinlich um die 80 Manuals konzipiert. Diese sind immer unterschiedlich und beinhalten oft einen Richtungswechsel der Firma. Diese Flexibilität trägt zu unserer Überlebensfähigkeit auf dem Markt bei, das zeigen die vergangenen 40 Jahre.
Was sind die konkreten Vorteile Ihres Konzepts für die Effizienz der Firma und für die Mitarbeiter?
Ist das Konzept der industriellen Demokratie erst einmal implementiert, liegen die Vorteile auf der Hand: Die Menschen sind viel zufriedener mit ihrer Arbeit, sie bestimmen selbstständig, wann sie arbeiten und wie sie ihre Arbeit erledigen. Viele beteiligen sich daran, ihr eigenes Gehalt festzulegen. Das alles trägt dazu bei, dass die Anzahl der Mitarbeiter, die die Firma jährlich verlassen, verschwindend gering ist. Sie beträgt gerade einmal zwei Prozent. Zum Vergleich: Der Durchschnitt in unserer Industrie liegt bei 25 Prozent. Die Idee, dass Menschen entbehrlich sind und man sie einfach gegen neue Mitarbeiter austauschen kann, gibt es bei uns nicht. Der direkte Vergleich mit unseren Wettbewerbern zeigt, dass wir sehr viel höhere Zufriedenheitsraten haben – sowohl von unseren Kunden und als auch von unseren Mitarbeitern. Und natürlich haben wir mit 41 Prozent auch seit 22 Jahren hohe Kapitalerträge.
Radikale Demokratie bedeutet Kontrolle abzugeben
Seit 1982 ist der Umsatz der Semco Gruppe stetig gestiegen. Zudem ist Semco einer der beliebtesten Arbeitgeber Brasiliens. Dennoch hat sich das Konzept der industriellen Demokratie bisher kaum durchgesetzt. Wie erklären Sie sich das?
Das ist eigentlich ganz einfach zu erklären. Denn eine freie, demokratische und partizipative Unternehmenskultur bedeutet, Kontrolle abzugeben und die Komfortzone zu verlassen. Das ist für Firmen, die vierteljährliche Ergebnisse vorweisen müssen, sehr schwer – selbst wenn sie verstehen, dass es sich lohnen könnte kurzfristig die Kontrolle abzugeben und Transparenz zu zeigen, damit sie in ein oder zwei Jahren eine bessere Firma haben. In der klassischen Unternehmensstruktur ist es für die Menschen wahnsinnig schwierig, Kontrolle abzugeben. Das ist in etwa so, als wenn man einen General beim Militär fragt, ob er auf seine Gerätschaften verzichten würde, damit jemand an der Front sie bekommen könnte.
Hat das Konzept denn auch Nachteile? Hat im Laufe der Jahre manches nicht funktioniert?
Das Konzept hat wirklich wenige Nachteile. Der größte Nachteil ist eigentlich, dass man am Anfang darauf vertrauen muss, dass die Mitarbeiter kluge Entscheidungen treffen. Das ist für viele der große Nachteil dieses Konzepts, denn am Anfang gibt es eine Phase, in der alles unklar ist. Ein weiterer Nachteil ist, dass man, auch wenn man davon überzeugt ist, dass die Firma in eine falsche Richtung geht, keine Entscheidungen treffen kann. Das stärkste Mittel, das man dann hat, ist Lobbying zu betreiben und für den eigenen Ansatz zu werben. Das schränkt auf jeden Fall die Agilität des Unternehmens ein.
Hatte die Digitalisierung irgendeinen Einfluss auf das Management der Firma?
Die Digitalisierung hat sich sehr organisch in unsere Firma eingefügt, es gibt kein Davor und Danach. Bei uns gab es nie ein zentrales IT-Programm oder eine IT-Abteilung. Die Mitarbeiter haben schon immer selbstständig Equipment gekauft, sodass wir sehr früh digitalisiert waren. Schon 1990 waren wir in verschiedene digitale Geschäfte involviert. Weil sich das so natürlich entwickelt hat, mussten wir auch keine Regeln aufstellen oder unsere zentralen Geschäftsfelder der Digitalisierung anpassen.
„Was man heute New Work nennt, ist für uns nichts Neues“
Ricardo Semler
Welche Rolle spielt die Digitalisierung heute?
Mittlerweile arbeiten viele digitale Nomaden für uns. Wir wissen weder wo sie sind, noch wie sie arbeiten, sie sind lediglich digital mit uns verbunden. Gleichzeitig stellen wir Menschen auf einer blind digital base ein. Wir machen also blindes Recruitment, bei dem Menschen digitale Aufgaben für uns erledigen und nur über die Ergebnisse ihrer Arbeit bewertet werden. Dabei wissen wir gar nichts über diese Menschen – ob sie männlich oder weiblich sind, ob sie 88 oder 12 Jahre alt sind. Das ist eine sehr interessante, digitale Version von flexibler Arbeit.
Unsere Arbeitswelt wandelt sich. Was hat ein Konzept wie New Work mit dem zu tun, was Sie schon seit 40 Jahren machen?
Was man heute New Work nennt, ist für uns im Prinzip nichts Neues. Es korreliert stark mit dem, was wir seit 40 Jahren machen, allerdings mit dem mechanischen Unterschied, dass man heute ein iPhone anstelle einer Schreibmaschine benutzt. Es ist schön für uns zu sehen, dass sich die Arbeitswelt in diese Richtung bewegt. Trotzdem sehe ich aber auch Herausforderungen, was New Work angeht, denn viele Menschen denken, wenn man seine Wände orange streicht und eine Tischtennisplatte ins Büro stellt, sei man eine moderne Firma.
Aber?
Ich denke, das ist überhaupt nicht der Fall. Wir müssen uns in eine andere Richtung bewegen: Wir sollten – daran versuchen wir auch schon zu arbeiten – nicht jeden feuern, der über 50 oder 60 Jahre alt ist und stattdessen einen Raum finden, in dem 72-Jährige mit jungen Menschen interagieren können. Die Menschen sollten lernen zusammen zu arbeiten und auch nach Weisheit zu streben und nicht nur nach Geschwindigkeit und Mut. Das waren noch nie nachhaltige Garanten für ein gutes Geschäft.
„An den Lumiar-Schulen herrscht ein komplett anderer Lern-Habitus“
Ricardo Semler
In Ergänzung zum Konzern haben Sie die Lumiar Schulen ins Leben gerufen. Was hat es damit auf sich?
Die Lumiar Schulen sind eine Adaption unserer Grundprinzipien auf Kinder. Zu uns in die Firma kamen stets Menschen aus einem Schulsystem, in dem sie gelernt haben zu gehorchen, Anweisungen zu befolgen und ihr Wissen in verschiedene Fächer aufzuspalten. Auch die Lehrer hatten meist einen recht beschränkten Hintergrund, verteilten immer nur kleine Portionen an Wissen und forderten viel Auswendiglernen. Das ist ein sehr überholter Blick auf die Welt. Die Menschen kamen dann nämlich zu uns und wollten immer wissen, was ihre Aufgaben seien und wo sie in fünf Jahren stehen würden. Wir hatten den Eindruck, dass wir das verändern müssen und taten im Rahmen der Firma alles, was wir konnten.
Das hat aber nicht gereicht?
Uns wurde irgendwann klar, dass wir das mit einem viel breiteren Ansatz angehen müssen –und schon bei den Kindern ansetzen sollten. Also haben wir Schulen nach denselben Grundprinzipien wie die unserer Firma entwickelt. Dort geben wir den Kindern eine Menge Raum für Verhandlungen über die Regeln, die untereinander gelten sollen und darüber, wie die Schule aus einer Perspektive des Wissens geleitet werden soll. Gleichzeitig gibt es keine Lehrer mehr. Stattdessen haben wir einerseits Tutoren, die die Kinder betreuen und andererseits sogenannte Master, die für die Lehre zuständig sind. Sie sind in einem bestimmten Wissensgebiet sehr passioniert und kommen entweder persönlich oder digital an die Schulen, um mit den Kindern Projekte nach deren Interessen zu entwickeln. So entsteht ein komplett anderer Lern-Habitus und anstelle über die Zeit zu verschwinden, bleibt die Magie des Lernens über einen langen Zeitraum präsent.
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