Was das Schöne an Filmfestivals ist? Dass man Filme aus Ländern zu sehen bekommt, die in der jeweiligen lokalen Kinolandschaft sonst vollkommen unterrepräsentiert sind. Wie oft laufen schon isländische, philippinische oder thailändische Filme in deutschen Kinos? Kritik an den ungewohnten Szenarien lässt allerdings meist nicht lange auf sich warten. Das westliche Publikum könne sich zu wenig mit den gezeigten Charakteren identifizieren, heißt es dann, deren Sorgen seien zu weit von unserer Realität entfernt.
Dabei sind es im Grunde die gleichen Themen, die uns bewegen. Dass deren kulturelle Perzeption in fernen Ländern eine andere ist, die sich auch anders ästhetisch widerspiegelt, kann unseren Horizont nur erweitern. Die beiden in Cannes vorgestellten japanischen Filme An und Our Little Sister dienen aktuell als Testfall.
Die Regisseurin Naomi Kawase eröffnete mit An, einer deutschen Koproduktion, die nach dem offiziellen Wettbewerb wichtigste Kategorie Un certain regard. Kawase nimmt bereits zum siebten Mal am Filmfestival in Cannes teil. 2007 gewann sie für The Mourning Forest den Großen Preis der Jury, die nach der Goldenen Palme wichtigste Auszeichnung; 1997 wurde ihr für Moe No Suzaku die Goldene Kamera für den besten Debütfilm überreicht.
Foto: An / FilmstillAn besticht durch seinen Minimalismus, in der Handlung genauso wie in der Charakterzeichnung. Die Pfade zweier einsamer Menschen kreuzen sich. Tokue ist durch einen Unfall straffällig geworden und saß lange Zeit im Gefängnis. Nach seiner Freilassung übernimmt er widerwillig den Betrieb eines Cafés, das Pfannkuchen serviert. Die Füllung aus roter Bohnenpaste, die auf japanisch An heißt, kauft er bereits fertig. Eines Tages taucht die ehemals an Lepra erkrankte Greisin Sentaro in Tokues Laden auf und überredet ihn, sie einzustellen. Sentaro kennt eine geheime Rezeptur für An - die Kamera filmt deren Herstellung gefühlt in Echtzeit.
An ist ein überaus sinnlicher Film: Das Brutzeln der Bohnen, das Geklappere des Schneebesens und das Zischen des heißen Fettes, in dem die Pfannkuchen goldgelb braten, werden bei Kawase zum ästhetischen Erlebnis. Den Lauf des Lebens stellt sie anhand eines Kirschblütenzyklus dar. Die große Faszination für diesen Baum erkläre sie sich damit, dass er die Menschen an den Tod erinnere, schreibt die Regisseurin in einem Pressestatement.
Foto: Our Little Sister / FilmstillDie Kirschblüte übernimmt auch im Wettbewerbsbeitrag Our Little Sister von Regisseur Hirokazu Kore-Eda - zum fünften Mal in Cannes dabei - eine tragende Rolle. Der auf dem Manga Unimachi Diary basierende Film beleuchtet den Alltag von drei Schwestern, die ihre Halbschwester bei sich aufnehmen, nachdem sie durch den Tod des gemeinsamen Vaters zur Waise wurde. Viel mehr passiert nicht.
Our Little Sister konzentriert sich auf Anekdoten aus dem täglichen Leben der Schwestern, die auf sehr leise Art erzählt werden: Lange Einstellungen, zahlreiche Totalen und ein sparsamer Einsatz von Klavier- und Streichermelodien zeichnen den Film aus. Das mögen in Cannes nicht alle. Kritisiert wurde vor allem, dass das Innenleben der Charaktere, die verschiedene Traumata erlitten haben, nicht sichtbar werde und folglich Identifikationsangebote fehlten.
Foto: The Sea Of Trees / FilmstillDerartige kulturelle Differenzen greift Gus Van Sant, bekannt durch Filme wie Good Will Hunting, Elephant (Goldene Palme 2003) oder Last Days, in seinem Wettbewerbsbeitrag The Sea Of Trees explizit auf. Im (tatsächlich existierenden) japanischen "Selbstmordwald" Aokigahara treffen der US-Amerikaner Arthur, gespielt von Matthew McConaughey, und Takumi (Ken Watanabe) aufeinander. Beide wollen ihr Leben beenden, Arthur aus Trauer um seine verstorbene Ehefrau, Takumi wegen einer beruflichen Niederlage.
Tod, Freitod und Arbeit haben in den Kulturen der beiden Männer sehr unterschiedliche Bedeutungen, über die sie sich austauschen. Eine reizvolle filmische Idee, die jedoch in überladener Metaphorik erstickt. Der Wald wird zum Feind, ein Unwetter endet für Arthur und Takumi, die mittlerweile gar nicht mehr sterben wollen, beinahe tödlich. Die Dramatik wird durch eine übertrieben suggestive Tonspur ins Lächerliche gesteigert, die Einstellungen werden immer kürzer - Hollywood lässt grüßen. Die Kritik war gnadenlos mit Van Sant: Kein Film erntete in Cannes dieses Jahr derart laute Buh-Rufe.