In der von Yorgos Lanthimos gezeichneten Welt möchte man nicht leben. Der Regisseur hat sie in der nahen Zukunft angesiedelt, besonders weit entfernt sind wir nicht mehr von ihr, was den Film umso beängstigender macht. Das Universum von The Lobster besteht aus zwei voneinander hermetisch abgeriegelten Realitäten: der Welt der Singles und der Welt der Paare. Oberstes Ziel ist das Leben zu zweit.
Es scheint jedoch so viele paarungsunwillige oder -unfähige Menschen zu geben, dass - vermutlich von Staats wegen - eine Institution namens "The Hotel" geschaffen wurde: Hier haben Singles 45 Tage Zeit, um unter den anderen Hotelgästen einen Partner zu finden. Andernfalls droht der Tod: Wer auch nach 45 Tagen noch allein ist, wird in ein Tier seiner Wahl verwandelt (der von Colin Farrell gespielte Protagonist David wäre gern ein Hummer) und steht zum Abschuss bereit. Schießen dürfen die Singles, die noch auf Bewährung im Hotel sind. Das Erlegen von Tieren wird mit zusätzlichen Tagen im Hotel belohnt. Geschossen werden darf auch auf andere Jagende. Jeder gegen jeden - Sozialdarwinismus pur.
Die Gefängnismetapher zieht sich wie ein roter Faden durch den zweistündigen Film. Die Bewohner des Hotels sind in Gefangene und Aufseher unterteilt. Bei Ankunft muss jeder Neuankömmling seine Kleidung ablegen und wird in eine Art Business-Uniform gesteckt. Alle Männer tragen die gleichen Hemden und Hosen, alle Frauen das gleiche geblümte Kleid. Es gibt ein Parfüm für Frauen, eines für Männer. Auch die Namen werden abgelegt, ausgerufen werden stattdessen die Zimmernummern. Die Gäste unterscheiden sich nur durch Charakteristika wie Kurzsichtigkeit, Lispeln oder Nasenbluten.
Das Verhalten der Insassen wird mittels Belohnung und Bestrafung konditioniert. Ein Hotelgast wird beim Masturbieren beobachtet - ein Verstoß gegen die im Hotel herrschenden Gesetze; zur Strafe wird die Hand des Sünders in einen Toaster gesteckt. Alle Räume sind videoüberwacht, überhaupt werden die Gäste permanent vermessen und kontrolliert, alles ist auf Effizienzmaximierung ausgerichtet.
Einen Ausweg aus der Hölle gibt es: den Wald, in den David flieht. Hier herrschen "The Loners", Menschen, die sich bewusst für das Alleinsein entschieden haben. Jeder darf hier für sich tanzen. Die Szene, in der ein Dutzend Loners friedlich nebeneinander herumwackelt, jeder zu einem anderen House-Track, den er über Kopfhörer hört, gehört zu den bewegendsten des Films.
Freiheit ist jedoch auch im Wald eine Illusion. Die dogmatische Loners-Anführerin, gespielt von Léa Seydoux, weist David darauf hin, dass hier umgekehrt die Verpartnerung untersagt ist. Wald und Hotel sind zwei Seiten derselben Medaille. Frei ist nur, wer sich von beiden Systemen lossagt, was David letztendlich auch versucht. Doch wie ein solches Leben fernab gesellschaftlicher Normen aussehen soll, lässt der Film offen.
Lanthimos erzählt seine Geschichte wie eine Fabel, Motive wie die Tiere und der Wald unterstreichen diesen Effekt. Untermalt wird die Handlung durch düstere Streichermusik, die ein permanentes Unwohlsein erzeugt. Beim Zusehen fragt man sich, wie viele Jahre wir noch von Lanthimos' Welt entfernt sein mögen, schließlich sind die Glorifizierung eines Lebens zu zweit auf der einen und die Unfähigkeit von immer mehr Menschen, eine Partnerschaft einzugehen, auf der anderen Seite fester Bestandteil unseres Alltags.
The Lobster ist Lanthimos' erster englischsprachiger Film. Davor hat der 1973 in Athen geborene Regisseur sieben Filme gedreht, auch in Cannes ist er bereits bekannt: Für seinen Film Dogtooth bekam er 2009 den Preis Un Certain Regard, zwei Jahre später war er für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Es ist gut möglich, dass Lanthimos am Ende der 68. Internationalen Filmfestspiele von Cannes für The Lobster die goldene Palme verliehen bekommt. An vielen Filmen des 2015er-Wettbewerbs scheiden sich bisher die Geister - von The Lobster sind hingegen alle restlos begeistert.