Hüftschwung, dem Tod zum Trotz: Depeche Mode im Olympiastadion Berlin
Depeche Mode sind nach dem Tod des Keyboarders Andrew Fletcher erstmals als Duo auf Tour – und zeigen, dass Memento Mori auch ein hoffnungsvoller Gedanke sein kann.
Zugegeben: Es ist nicht unbedingt ein Thema, mit dem man an einem Bilderbuch-Sommertag konfrontiert werden will, während man sich das erste Bier des Wochenendes gönnt. Aber da steht es, in weißen Buchstaben, eingerahmt von den Band-Initialen „DM“ auf dem schwarzen Plastikbecher: Memento Mori. Bedenke, dass du sterben wirst. Na, dann mal Prost!
Wer auf ein Depeche Mode Konzert geht, kann dem Tod schwer entkommen – bekanntermaßen ist Sänger Dave Gahan ihm selbst schon einmal knapp von der Schippe gesprungen. Das Thema ist so omnipräsent in den Songs der britischen Synth-Pop-Legenden, dass ein Kommentar von Keyboarder Andrew Fletcher zum Running Gag geworden sein soll: „Does every song have to be about death?“
Fletcher ist letztes Jahr überraschend verstorben. Dass das 15. Studioalbum mit dem bedeutungsschwangeren Titel „Memento Mori“ zum Zeitpunkt von Fletchers Tod bereits fertig gewesen sein soll, macht die Sache umso tragischer. Wie soll man nach über 40 Jahren Bandgeschichte weitermachen, wenn plötzlich einer fehlt? Zu zweit, statt zu dritt auf Tour gehen – zumal Fletcher zwischen den beiden Band-Egos David Gahan und Martin Gore eine gewisse Vermittlerfunktion zugeschrieben wurde.
Dass diese Depeche-Mode-Tour unter ebenjenen Voraussetzungen überhaupt stattfindet, ist also alles andere als selbstverständlich. Die Fans wissen das zu schätzen – gerade in Deutschland: Vor wenigen Tagen sind Zahlen veröffentlicht worden, dass „Memento Mori“ hierzulande das bislang erfolgreichste Album des Jahres ist. Keine andere internationale Band hatte mehr Nummer-eins-Alben in den deutschen Charts als Depeche Mode. Klar, dass in Berlin, wo Depeche Mode eine besonders treue Fan-Base haben, gleich zwei Abende im Olympiastadion restlos ausverkauft sind.
In der S-Bahn stimmt eine Männergruppe „Never Let Me Down Again“ an. Der halbe Bahnsteig stimmt mit ein oder nickt zumindest lächelnd mit dem Kopf im Takt. Mit dem 1987 erschienen Hit werden Depeche Mode das Konzert an diesem Abend im Olympiastadion abschließen. Vermutlich wissen das die meisten hier schon. Die uniform in schwarze Bandshirts verschiedenster Jahrzehnte gekleidete Masse lässt darauf schließen, dass es für die meisten hier nicht ihr erstes Depeche-Mode-Konzert ist. Teenager*innen trotten hinter Papas mit Dave-Gahan-Gedächtnistolle und tätowierten Mamas in Doc Martens her. Eine Frauengruppe trägt Engelsflügel aus weißen Federn auf dem Rücken. Das Plattencover von „Memento Mori“.
Die Stimmung ist gut. Ausgelassen ist sie nicht. Fast schon andächtig wartet die Menge. Pünktlich auf die Minute zerschneidet der Bass die sommerliche Abendluft wie ein Kanonenschuss. In silbernen Jacketts betreten Martin Gore und Dave Gahan, die Bühne, gefolgt von ihrer Band. Mit schwingenden Hüften stolziert Gahan an den Bühnenrand, geht mit yogihafter Anmut in die Knie und stimmt „My Cosmos Is Mine“ an; den monumentalen Opener des neuen Albums. Wie auf der neuen Platte folgt darauf „Wagging Tongue“, der mit seinen mechanisch-kühlen Synth-Sequenzen unter Gahans typisch düsterem Goth-Gesang die Depeche-Mode-Erfolgsformel mustergültig erfüllt. Trotzdem ist erst bei „Walking In My Shoes“ die erste echte Euphorie zu hören. Die Leute sind halt für die Hits hier.
In einem fast schon komischen Moment entledigt sich Gahan während des Songs seiner hochhakigen Tanzschuhe und wirbelt fortan barfuß wie ein Derwisch über die Bühne. Gahan zieht alle Register: Er flirtet in Freddy-Mercury-Gedächtnispose mit dem Mikrofonständer, dreht Pirouetten und reißt die Arme in die Luft. Doch der Funke will nicht so recht überspringen. Ob es am Sound liegt? Der ist stellenweise leider so verwaschen, dass man den Hit „Precious“ erst nach einigen Sekunden erkennt. Das prägnante Gitarrenriff wird von der Soundwand im Stadion einfach verschluckt.
Der Wendepunkt passiert, als Gahan Gore für zwei Songs die Bühne überlässt. Zur Ballade „A Question of Lust“ bringt plötzlich ein Meer aus tausenden Handylichtern das Stadion zum Strahlen. Das darauffolgende „Soul With Me“ schließt perfekt an. Im Albumkontext von „Memento Mori“ wirkt der Song fast verkitscht. Hier auf der Bühne, reduziert auf Piano und Gesang, wird er zu einem emotionalen Höhepunkt des Abends. Gekrönt wird dieser von Gahan, der Gores Performance anschließend als „absolutely wonderful“ würdigt – für Gores gesangliche Performance unbedingt gerechtfertigt.
Danach ist Crowd-Pleasing angesagt: Nach dem neuen Radio-Hit „Ghosts Again“ liefern Depeche Mode mit „Enjoy the Silence“, „Just Can’t get Enough“ und „Personal Jesus“ pflichtbewusst ihre größten Hits. Die stärksten Momente bleiben aber an diesem Abend die leisen. Absolutes Highlight ist das Duett „Waiting For The Night“, bei dem nicht nur Gahans tiefschwarzer Bariton und Gores schnarrende Vibratos in perfekter Harmonie schwingen. Auch zwischenmenschlich scheinen die Wogen geglättet. Beide verbeugen sich voreinander, liegen sich in den Armen. Vielleicht lassen sich im Angesicht des Todes auch alte Streitigkeiten beilegen. Memento Mori kann also auch ein hoffnungsvoller Gedanke sein.
Das zweite Depeche Mode Konzert findet am Sonntag, 9. Juli im Olympiastadio statt.
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