Sie ist aus Deutschland, er aus Marokko. Sie haben ein gemeinsames Kind. Die Geschichte einer Odyssee.
Ein „guter Tag". So nennt Anna ihn, den weißkalten 7. Dezember. Heute sieht es so aus, als würde sie endlich die Unterstützung bekommen, auf die sie seit Monaten wartet. Anna strahlt ein breites, fröhliches Lächeln.
Seit Oktober ist die 24-jährige Anna Mutter, ihr Sohn David* ein Extremfrühchen, es liegt auf der Intensivstation eines Frankfurter Krankenhauses. Davids Vater Omar* ist Marokkaner und durfte den beiden nicht nach Deutschland nachreisen. Die Hürden der Bürokratie nehmen den dreien das, was anderen selbstverständlich ist: die Möglichkeit einer geeinten Familie.
Heute aber sieht es so aus, als könne Annas Freund endlich nach Deutschland kommen.
„Kein Mensch geht davon aus, dass er je in so eine Situation kommt", sagt Anna. Ruhig sitzt sie auf dem grünen Plastikstuhl in der Mensa des Frankfurter Uniklinikums. Nur ab und zu lässt sie eine flache Hand auf den Tisch fallen, als wolle sie so ihre Gefasstheit beiseiteschlagen. „Man hat alles so schön durchgeplant, denkt, so was passiert mir auf keinen Fall, und dann steht man da."
Als Studentin der Kulturwissenschaften war Anna für ein Auslandsjahr in Casablanca; ein halbes Jahr Studium, dann Praktika. Bei der Planung eines Festivals lernte sie Omar kennen, der stand kurz vor seinem Bachelorabschluss in Theaterwissenschaften. Omar spricht kein Deutsch und hat Marokko noch nie verlassen; Anna kommt mit ihrem Französisch gut zurecht, ist fasziniert von Omars Heimat. Während der gemeinsamen Zeit in Casablanca verlieben sich die beiden ineinander.
Wenn Anna von dieser Zeit spricht, gleitet ihr fester, klarer Blick manchmal kurz aus dem Fenster, durch die hohe Glasfront in den Himmel. Dass sie schwanger war, hat sie erst spät gemerkt. Da war sie bereits im vierten Monat, zwei Monate vor ihrer Rückreise.
Als sie sich erneut online bewerben wollen, ist der Termin auf frühestens Mai 2018 verschoben - fünf Monate nach dem errechneten Geburtstermin.
„Wir haben gleich die Vaterschaftsanerkennung beim Standesamt beantragt und das Sorgerecht geteilt, weil das wichtig ist für die späteren Visumsanträge", sagt Anna. Denn verheiratet sind Anna und Omar nicht. Das vorläufige Ziel war nun ein Termin bei der Deutschen Botschaft in Rabat, um ein Familenzusammenführungsvisum zu stellen. Es ist bereits der zweite Versuch, die junge Familie zu vereinen.
Ihr erster Anlauf liegt bereits vier Monate zurück. Im September hatten Anna und Omar versucht, ein Familienbesuchsvisum für 90 Tage zu bekommen. Doch das deutsche Konsulat in Casablanca riet ihnen davon ab. Das Visum gelte nur für drei Monate, außerdem brauche es eine offizielle Einladung und jemanden, der für den Einreisenden bürgt. Omars Antrag würde man aber ohnehin ablehnen, sollte die Botschaft von seiner schwangeren Freundin erfahren. Schon der Verdacht auf illegales Bleiben reiche aus.
So war die Familienzusammenführung die scheinbar bessere Lösung - ohne 90-Tage-Frist und mit der Möglichkeit, in Deutschland eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll dieses Visum die Herstellung oder Aufrechterhaltung der familiären Einheit gewährleisten. Für Anna müssen diese Zeilen klingen wie blanker Hohn.
Vor dem eigentlichen Visumsantrag muss man einen Termin bei der Botschaft beantragen, über ein Onlineformular. „Da hieß es, die Terminvergabe könne einige Monate dauern", so Anna. Und dazu brauchte man auch noch Omars Passnummer. „Aber mein Freund hatte nicht mal einen Pass, weil er Marokko nie verlassen hatte", so Anna. Also musste der Pass beantragt werden. Als Anna und Omar sich erneut online bewerben wollen, ist die Terminvergabe auf frühestens Mai 2018 verschoben - fünf Monate nach dem errechneten Geburtstermin.
„Ich könnte mich über die deutsche Botschaft in Rabat nur aufregen", sagt Anna, und ihre Hand fällt wieder auf die Tischplatte. Ein dumpfer Knall, der im Geschirrklappern und Stimmengewirr der Mensa einfach untergeht. Allein die Beratung der Botschaft war schon ein Kraftakt, erinnert sich die Studentin; nur zwei Stunden pro Tag ein zuständiger Telefonservice, für Visa-Anträge jeder Art: „Wir mussten zwei Tage lang auf fünf Telefonen da anrufen, bis mal etwas durchging." Mittlerweile ist die Botschaft laut Auswärtigem Amt von 7.30 Uhr bis 17 Uhr telefonisch zu erreichen, auch wenn das auf deren neuer Website nicht ersichtlich wird.
Mitte September fliegt Anna zurück nach Deutschland. Von hier aus will sie an Omars Einreise weiterarbeiten. Im Oktober, während eines Wochenendbesuchs bei einer Freundin in Frankfurt bekommt Anna plötzlich starke Blutungen. Kaum fünf Minuten nach Ankunft in der Notaufnahme ist nichts mehr aufzuhalten. „Die Geburt hat kaum drei Minuten gedauert, nicht mal meine Eltern konnten informiert werden. Ich war in der 25. Woche."
Niemand, so erzählt Anna, hat bis zur Sturzgeburt geglaubt, dass das Kind an diesem Tag wirklich zur Welt kommen würde, so stark verfrüht. Stattdessen hat man ihr erst einmal Wehenhemmer verabreicht. „Ich war total in Panik", erinnert sich Anna. Der kleine David hat nach seiner Geburt ein offenes Herz und kann nicht selbständig atmen. Trotz allem sagt seine Mutter jetzt, sie habe wirklich Glück gehabt. „Zu Beginn war nicht einmal klar, ob er die ersten drei Wochen überlebt." Den Namen haben Anna und ihr Freund gemeinsam ausgesucht: „Der von den Göttern Geliebte"; das passt irgendwie.
Seit Anfang Dezember darf Anna ihn selbst aus seinem Wärmebett nehmen, und regelmäßig macht sie mit ihm das, was die Fachsprache „Känguru-Methode" nennt: Das Baby wird so häufig wie möglich auf die nackte Haut der Mutter gelegt, um ihren Herzschlag zu spüren.
Anna sagt, sie habe eigentlich gar nicht die Zeit, über alles nachzudenken. „Theoretisch wäre ich ab Januar Mutter gewesen, praktisch habe ich jetzt ein Kind." Dass sie über dieses Kind aber noch immer nicht die Obhut hat, macht es noch schwieriger, ihre vertrackte Situation zu verarbeiten. „Ich fühle mich immer noch wie eine Besucherin", murmelt Anna. „Allein die Intensivstation zu betreten, das Waschen und Desinfizieren, zeigt dir, dass du ein Fremdkörper bist, der deinem eigenen Kind schaden könnte."
Es ist eine Ohnmacht, gegen die Anna nichts tun kann als ausharren.
Mit der neuen Situation, in einer fremden Stadt ohne die Möglichkeit, mit dem Kind zurück nach Hildesheim oder zu den Eltern zu ziehen, ist der Nachzug Omars für Anna von noch viel größerer Bedeutung. „Ich wollte so sehr, dass er bei der Geburt dabei ist", sagt sie wehmütig. „Und auch während der Schwangerschaft." Anna bleibt verwehrt, was für viele werdende Mütter eine Selbstverständlichkeit ist; das gemeinsame Warten auf das Kind mit dem Partner. Stattdessen ist sie die meiste Zeit allein mit der Schwangerschaft, und hat Omar seit Monaten nicht gesehen. „Wir haben diese Umstrukturierung nie gehabt, vom Pärchen zu dem Gedanken; 'wir sind bald eine Familie'."
In einer erneuten Anfrage an das Konsulat schildert Anna die medizinische Notsituation, die nun eingetreten ist. Das Konsulat antwortet per Mail mit einer Geburtsgratulation - und einem aus der Website herauskopierten Textabschnitt. Früher als in drei Monaten, also im März 2018, sei nicht mit einem Termin zu rechnen:
„Stark steigende Antragszahlen und eine aus personellen und räumlichen Gründen beschränkte Flexibilität bei der Ausweitung von Terminangeboten führen trotz großen Einsatzes der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den Visastellen zu längeren Wartezeiten. Die Deutsche Botschaft Rabat und das Auswärtige Amt sind sich dieses Problems bewusst und arbeiten ständig an Maßnahmen, um das Visumverfahren zu optimieren und Wartezeiten zu reduzieren. Wir bedauern es sehr, Ihren Wunsch bezüglich eines vorverlegten Termin nicht nachkommen zu können."
Inzwischen ist die Website überarbeitet.
„Mit drei Monaten statt sieben sind sie uns ja schon entgegengekommen", schiebt Anna hastig ein. „Aber für ein Extremfrühchen ist die Anwesenheit beider Eltern medizinisch wichtig! Es ist ja nicht mal sicher, ob der 'Notfall' in drei Monaten nicht schon gestorben ist", fügt sie bitter hinzu und sieht wieder aus dem Fenster.
Am Nachbartisch fängt ein Kleinkind zwischen seinen Eltern an zu weinen. Hinter Anna sitzt ein Arzt in weißem Kittel bei einer verspäteten Mittagspause. Die Mensa leert sich langsam.
Anna ist jeden Tag hier, Milch abpumpen, David besuchen, Känguruen. Gerade in der Zeit, in der es ihrem Sohn nicht gut ging, war es für Anna schwer, ganz allein auf der Intensivstation zu sein. „Alle anderen Eltern sind da grundsätzlich als Paare anzutreffen", erzählt sie und zieht sich unbehaglich die weiten Pulloverärmel über die grazilen Handgelenke. „Und man selbst hofft die ganze Zeit, dass noch eine Art Wunder geschieht und der Freund nachkommen kann. Das war schon sehr schlimm."
Nach der wenig empathischen Antwort des Konsulats wendet Anna sich an die Rechtsberatung der Goethe-Universität Frankfurt, eine allgemeine Auskunfts- und Hilfestelle für Studierende. Die schickt eine neue Anfrage an die Visastelle des deutschen Konsulats in Rabat. Aber auch daraufhin kommt lediglich das Angebot von drei Monaten statt sieben. Unterstützt wird das durch den Einwand:
„Auf Grund der hiesigen Erfahrungen aus vielen Jahren, ist es erwiesen, dass die Einreise eines nur gebrochen, auf niedrigstem Niveau deutschsprechenden Ehepartners/Vaters, das Stressniveau der Mutter stark ansteigt, da diese sich dann um zwei „Kinder" kümmern muss. So wird aus der erwarteten Entlastung eine zusätzlich Last."
„Das war wirklich ein Unding", sagt Anna über diese Mail, aber selbst jetzt bleibt ihre Stimme erstaunlich gefasst. Nur ihre Hand liegt wieder flach auf dem Mensatisch. „Zu Beginn von all dem war ich ein emotionales Wrack, aber mittlerweile überwiegt einfach die Wut. Ich kann auch rechtlich einfach wenig machen." Denn, das weiß Anna selbst: Die Botschaft in Rabat hat gesetzlich nichts falsch gemacht.
Das Auswärtige Amt bestätigt gegenüber TONIC, dass die Botschaft wegen einer medizinischen oder humanitären Notsituation einen Termin vorziehen könne - doch würden fast alle Antragsteller versuchen, besondere Gründe geltend zu machen, um recht bald einen Termin zu bekommen.
Anna kann mit ihrer Wut über die Behandlung und die geringe Hilfe nirgendwo hin. Es ist eine Ohnmacht, gegen die sie nichts tun kann als ausharren.
Anna sagt über sich und ihre kleine Familie, sie fielen „aus jedem Raster". Häufig bekäme sie auf Ämtern zu hören, dass man mit einer solchen Situation nicht vertraut sei. Es klingt zwar müde, aber keinesfalls resigniert. Und trotz allem kann sie auch schon wieder breit lächeln, als sie sagt: „Ich geh mal noch ein bisschen Känguruen. Heute ist ein guter Tag."
Dieser „gute Tag", der 7. Dezember, ist inzwischen acht Monate her. An diesem Tag sah es so aus, als könne Omar mithilfe eines Praktikumsvisums nach Deutschland. Nach Familienbesuchs- und Zusammenführungsvisum der Versuch Nummer drei. Doch wie so oft in Annas Geschichte sollte auch dieser „gute Tag" im Nachhinein nichts als leere Hoffnung sein.
Omar hätte damals fast für drei Monate nach Deutschland reisen können. Eine Universität hatte ihn zu einer wissenschaftlichen Mitarbeit eingeladen; das Projekt trug die Idee eines internationalen Austausches von Künstlern und Kulturakteuren in Deutschland. Von hier aus wollten Anna und Omar weitere Versuche starten, damit Omar gar nicht erst wieder zurück muss nach Rabat.
Der ehemalige marokkanische Konsul rät zusätzlich zu einem Anwalt.
Aber am 14. Dezember - Anna kommt gerade aus der Intensivstation, wo sie David besucht hat - erfährt sie, dass Omar nach Rabat gebeten wurde. Das Praktikumsvisum, das am Folgetag in Kraft treten soll, wird zurückgezogen. Angegebener Grund: mangelndes Vertrauen betreffs der angegebenen Visumsgründe. Der angegebene Grund sei womöglich nicht der wahre.
Heute sagt Anna über diese Phase: „Stressig und anstrengend war das alles ja die ganze Zeit. Aber nach diesem 14. Dezember war ich wie paralysiert, ich stand richtig neben mir. Das macht einen ganz komisch träge, ganz passiv." Woher das Misstrauen der Botschaft stammt, kann ihnen niemand sagen. Aber die Rechtsberatung der Universität hatte der Botschaft kurze Zeit zuvor Bescheid gegeben, dass der beantragte vorgezogene Termin für das Familienzusammenführungsvisum wegen des Praktikums vermutlich nicht länger nötig sei - ein Missverständnis, hatte Anna doch gehofft, sich diese Möglichkeit dennoch offen lassen zu können. Anna kann nur mutmaßen, dass in Rabat daraufhin eins und eins zusammengezählt wurde: dass Omar sein Praktikumsvisum nur zur Einreise benötigte.
Am 22. Dezember wartet endlich der nächste wirklich gute Tag. David wird aus dem Krankenhaus entlassen, früher als erwartet, und er und Anna können Weihnachten bei ihren Eltern verbringen. „Das war eine kleine Entschädigung", sagt Anna lächelnd. Der kleine Junge braucht nicht länger technische Hilfe, um zu überleben, und macht rasend schnell Fortschritte.
Nach dem gecancelten Visum haben Anna und Omar Angst, der Termin für das Familienzusammenführungsvisum könne ebenfalls abgesagt werden. Anna zieht mit David zu ihrer Großmutter nahe Osnabrück, die eine leerstehende Wohnung hat, und kontaktiert von dort den ehemaligen marokkanischen Konsul in Bremen, der noch ehrenamtlich tätig ist und sich für sie in der marokkanischen Botschaft informiert. Er rät ihr und Omar zusätzlich zu einem Anwalt.
Mitte Januar legt die Deutsche Botschaft in Rabat dann schließlich einen Vorsprechtermin fest: den 19. Februar.
„Bis das endlich geklärt war, das war eine schlimme Zeit", sagt Anna heute, und ihr Blick schweift, wie damals in der Mensa, wieder zum Fenster hinaus. Mehrmals hat sie überlegt, ob sie mit David nach Marokko würde reisen müssen, um bei Omar zu sein: „Das waren Fragen, die mich lange nicht losgelassen haben. Es gab Augenblicke, da sagte Omar verbittert, offenbar wolle Deutschland ihn ja nicht haben. Da habe ich gesagt; du musst kommen, ich kann das hier nicht allein." Stattdessen in Rabat zu leben, mit einem so kleinen und verletzlichen Kind wie David, traut sich Anna nicht zu.
Kurz vor dem 19. Februar gibt es einen letzten Schockmoment. In der Vorladung zum Termin ist Omars Geburtsdatum falsch angegeben. Der Zahlendreher ist vorher niemandem aufgefallen. „Meine Mutter hat damals gesagt; 'Ich weiß auch nicht, was bei euch los ist, irgendwie steckt da der Wurm drin'", erinnert sich Anna und muss beinahe lachen. Jetzt kann sie das.
Eigentlich wird das Vorstellungsgespräch nur bei Richtigkeit aller Daten gewährt. Als Omar endlich jemanden in der Botschaft erreicht, erklärt man ihm, unter diesen Umständen verfalle der Termin. „Das war der Punkt, an dem ich dachte, jetzt müssen wir wieder zehn Monate warten." Der Anwalt versucht, sich noch einmal mit der Botschaft in Verbindung zu setzen, aber auch er bekommt keine Zu- oder Absage. Am 19. fährt Omar trotz allem nach Rabat zur Botschaft.
„Wie kann es sein, dass drei Menschen am selben Tag das gleiche Visum beantragen, und bei uns dauert es dreimal so lange?"
„Er war natürlich furchtbar nervös." Beim Warten in der Botschaft lernt Omar zwei andere Bewerberinnen kennen, beide mit Terminen für Anträge zur Familienzusammenführung.
Später erfährt er, dass beiden nach nur zwei Wochen das Visum ausgestellt wurde.
Bei Omar dauert es länger, aber letzten Endes funktioniert es. Am 9. April, nach sieben Wochen, bekommt er Bescheid: Sein Visum wurde genehmigt.
„Das war auch wieder einer der Aspekte, die mir einfach nicht klar waren", murmelt Anna und schüttelt den Kopf. „Wie kann es sein, dass drei Menschen am selben Tag das gleiche Visum beantragen, und bei uns dauert es dreimal so lange?"
Das Auswärtige Amt erklärt es TONIC gegenüber mit der Arbeit der zuständigen Ausländerbehörde, die in Deutschland dem Antrag zustimmen muss. Zwar könne die Botschaft der Ausländerbehörde eine Notsituation weiterleiten; maßgeblichen Einfluss auf das innerdeutsche Verfahren habe die Auslandsvertretung aber nicht. Auch die Klärung familienrechtlicher Vorfragen könne ein Verfahren verzögern.
Am 21. April kommt Omar in Deutschland an, er zieht zu Anna und David nach Osnabrück. Er und Anna haben sich acht Monate lang nicht gesehen. „Ich hatte mir oft vorgestellt, wie es wird, wenn Omar hier ankommt. Ganz emotional. Im Endeffekt war es ganz anders, und ich habe es auch eine Weile lang gar nicht begreifen können. Ich konnte mich auch nicht so richtig freuen. Am ersten Abend wollte ich mich wie gewohnt zum Skypen hinsetzen, bis mir eingefallen ist, er ist ja jetzt da."
„Es ist vielleicht auch eine Strategie, sich das Schlimmste auszumalen. Dann ist man nicht ganz so geschockt, wenn es passiert."
Die kleine Familie findet aber schnell zueinander. Sie sprechen ein buntes Mischmasch aus Deutsch und Französisch, und Annas Großmutter versteht sich mit beiden gut. „Es ist wunderschön, jetzt eine kleine Einheit zu sein, David zusammenwachsen zu sehen", sagt Anna, während sie Omar ihren Sohn abnimmt und ihn grinsend von der Seite betrachtet: „Er ist ein ziemlich pflegeleichtes Kind, sehr aufmerksam. Aber er ist schon kein winziges Baby mehr." Noch haben sie viel Zeit füreinander, es sei ein bisschen wie Ferien bei Oma, meint Anna lächelnd, während David auf ihrem Schoß auf- und abwippt. Von ihrer Wut auf die Botschaft in Rabat ist hauptsächlich Verständnislosigkeit geblieben. „Das Problem ist wirklich, dass es kein Gesetz zu irgendwelchen Fristen gibt, nichts ist nachvollziehbar, und niemand ist erreichbar. Ich kann es überhaupt nicht verstehen, es gibt keinerlei Transparenz."
Wohin es von nun an gehen soll, wissen sie noch nicht. „Aber dieser Teil unserer Geschichte ist hoffentlich zu Ende". Die nächsten Stationen sind erst einmal hier in Deutschland; Integrations- und Sprachkurse für Omar, dann will Anna ihr Studium wieder aufnehmen. „Ich denke, David fängt bald an zu krabbeln", stellt sie mit Blick auf ihren zappelnden Sohn fest und küsst ihn auf die Schläfe.
Wenn sie an das vergangene Jahr zurückdenkt, sagt Anna: „Ich glaube, man geht irgendwann so sehr davon aus, dass das Schlimmste passiert, dass man ganz überrascht ist, wenn es dann doch nicht so kommt. Und es ist vielleicht auch eine Art Strategie, sich das Schlimmste auszumalen, dann ist man nicht ganz so geschockt, wenn es passiert."
Das Schlimmste ist für Anna und Omar fürs Erste überstanden.
Die mit dem Visum genehmigte Aufenthaltsgenehmigung gilt ein Jahr. Kann Omar bis dahin eine gelungene Integration nachweisen, wird sie um zwei Jahre verlängert.
Erst dann ist wieder Zeit, sich Gedanken zu machen.
*Namen geändert.
Mitarbeit und Redaktion: Fabian Stark