Missbrauch in der Kirche
Sie wollte Gutes tun im Namen Gottes, also trat Doris Reisinger nach der Schule einer katholischen Ordensgemeinschaft bei. Einer der Priester soll sie über Monate hinweg missbraucht haben. Und während der mutmaßliche Peiniger nahezu unbehelligt bleibt, kämpft die 35-Jährige bis heute darum, nicht als Täterin gesehen, sondern als Opfer anerkannt zu werden.
Sie wollte selbstlos die Welt verbessern und war bereit, ihr Leben für „etwas Großes" herzugeben. Also trat Doris Reisinger 2002 direkt nach der Schule in eine Ordensgemeinschaft ein. Voller Begeisterung sagte die damals 19-Jährige: „Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir". Ihr jugendlicher Idealismus hatte im katholischen Glauben eine Heimat gefunden. Für die Einser-Abiturientin war das naheliegend, hatte ihre Familie bei schweren Schicksalsschlägen immerzu Trost und Hoffnung in der Kirche gesucht.
Um Teil der Ordensgemeinschaft „Das Werk" zu werden, gab die junge Frau ihr bisheriges Leben bereitwillig auf. Immerhin handelte es sich hierbei sogar um eine päpstlich anerkannte „Familie des geweihten Lebens". Mit Gottes Gnade also bestimmten die verantwortlichen Ordensschwestern von nun an, wie sich Doris Reisinger kleidete, sich frisierte, mit wem sie sich unterhielt und worüber. Sie bestimmten, was sie las, wann sie zu Bett ging, legten die Arbeitsaufgaben und die Mahlzeiten fest. Sogar Briefe an ihre Familie überprüften die Verantwortlichen, erzählt Doris Reisinger. Also erfuhren ihre Eltern acht Jahre lang nichts vom Leid der eigenen Tochter. Sie hatten keine Ahnung von der immerwährenden Erschöpfung, der Entmündigung, den mutmaßlichen Vergewaltigungen durch einen Priester der Ordensgemeinschaft. Sie wussten nicht, dass sich ihre Tochter das Leben hatte nehmen wollen.
Heute ist Doris Reisinger 35 Jahre alt - und berichtet mit ruhiger, aber fester Stimme von ihren Erlebnissen. „Im Prinzip bin ich verführt worden mit diesem Ideal der absoluten Selbstlosigkeit, das bis heute von manchen Leuten bewundert wird." Pflicht und Verzicht in der Ordensgemeinschaft waren für sie somit sinnstiftend; jeder Zweifel bloß eine Versuchung, um sie vom Weg Gottes abzubringen. Selbstlosigkeit, Demut und Obrigkeitsglaube waren für die junge Frau selbstverständlich. „Bis ich vergewaltigt worden bin. Da wusste ich: Das macht keinen Sinn", sagt Doris Reisinger.
Über drei Monate hinweg hatte sie der Priester und Ordensbruder Burkhard F. im Jahr 2008 immer wieder sexuell missbraucht. Die damals 24-Jährige war in einer Niederlassung der Ordensgemeinschaft in Rom, wo Männer und Frauen auf engem Raum zusammenlebten. Doris Reisinger beschreibt eine Verquickung aus Machtgefällen, Verboten und Schuldzuweisungen: Der Priester war ihr nicht nur körperlich überlegen, sondern stand auch innerhalb der Ordenshierarchie über ihr. Er konnte ihr folgen, wohin er wollte, während sie den Vorschriften gemäß wusch, kochte oder im Garten arbeitete. Schon mit seinen Worten brachte er sie in Bedrängnis, weil Ordensbrüder- und -schwestern nicht einmal unbeaufsichtigt miteinander sprechen durften. Reisinger suchte Hilfe bei der einzigen für sie verantwortlichen Ordensschwester, doch wurde von ihr gescholten: Es sei ihre eigene Schuld, wenn sie den Priester in Versuchung brächte. Reisinger erzählt völlig ungeschönt, wie daraufhin aus unangenehmer Aufdringlichkeit sexueller Missbrauch wurde und was das mit ihr machte. „Erst mal war ich irgendwie weg, vollkommen apathisch", beschreibt sie die Zeit danach, „ich habe nicht einmal darüber nachdenken können, was mir passiert ist. Ich habe gar nichts machen können. Das Einzige, was ich kapiert habe, war, dass meine ganze Welt kaputt war."
Zwei Jahre dauerte es, bis Doris Reisinger erneut den Mut aufbrachte, ihrer Verantwortlichen und anderen Oberen der Ordensgemeinschaft von den mutmaßlichen Übergriffen zu erzählen. Aber: Keine Aufklärung, keine Entschuldigung, keine Konsequenzen, keine Unterstützung seien gefolgt. Lediglich ein Gespräch mit dem vorstehenden Priester der Ordensgemeinschaft habe Burkhard F. führen müssen. Er gestand - doch was er genau gestand, weiß Reisinger bis heute nicht.
„Da habe ich auch verstanden, dass ich eigentlich irgendwie die ganze Zeit schon vergewaltigt worden bin", sagt Doris Reisinger. Und meint die umfassende Kontrolle und den ständigen subtilen Zwang, dem sie unter dem Deckmantel der Selbstlosigkeit ausgesetzt gewesen sei. Aus freiwilliger Demut sei fremdbestimmte Demütigung geworden.
Um den letzten Funken Hoffnung beraubt, dass sich die Strukturen der Ordensgemeinschaft wandeln könnten, trat Reisinger 2011 aus. Nun wollte sie zivilrechtlich gegen Burkhard F. vorgehen und stellte in Deutschland und Österreich Strafanzeige gegen ihn. Doch die Strafverfolgung wurde jeweils eingestellt. „In Deutschland fehlte die Anwendung körperlicher Gewalt als Straftatbestand; in Österreich überzeugte Burkhard F. mit seiner Erzählung einer einvernehmlichen intimen Beziehung", so Reisinger.
Vom Zivilrecht enttäuscht, hoffte sie auf eine sogenannte Apostolische Visitation, eine Untersuchung im Auftrag des Papstes. Von 2013 bis 2014 wurde diese „aufgrund von Vorwürfen von ehemaligen Mitgliedern unserer Gemeinschaft" eingeleitet, wie „Das Werk" selbst in einer Stellungnahme vom November 2014 angab. Die „päpstliche Anerkennung der Gemeinschaft als eine neue Form des geweihten Lebens" sei daraufhin bestätigt worden. Die Ordensgemeinschaft ist also nach wie vor vom Papst legitimiert. Zudem heißt es: „Wir bedauern sehr, dass ein Priester unserer Gemeinschaft eine kurze, intime Beziehung zu der damals 24-jährigen Schwester unterhalten hat."
Damit reagierte „Das Werk" auf das Buch „Nicht mehr ich: Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau", das Reisinger 2014 unter ihrem damaligen Namen Doris Wagner veröffentlicht hatte. Der Inhalt des Buches, so die Einschätzung von Kirche und Ordensgemeinschaft, sei rein subjektiv und verletze die Gefühle der Mitglieder der Ordensgemeinschaft. Gegenüber der FR betont Georg Gantioler, Pressesprecher von „Das Werk", Reisingers Vorwürfe seien weder innergemeinschaftlich noch kirchen- oder zivilrechtlich bestätigt worden. „Der Blick ist nach vorne gerichtet, um den Menschen und der Kirche gemäß ihrem Charisma zu dienen", heißt es abschließend.
Reisinger sagt, Rache sei keinesfalls ihr Ziel. Sie wolle vielmehr zu Aufklärung und Emanzipation in der katholischen Kirche beitragen. Aus dieser Motivation schrieb sie auch mehrfach Briefe an den Papst, in denen sie ihre Geschichte offenlegte. In einer Antwort des vatikanischen Staatssekretariats, die Doris Reisinger im Oktober 2018 erhalten hat, dankt ihr Papst Franziskus für ihre „Mitsorge um das Wirken der Kirche in unserer Zeit" und bittet sie, für ihn und seinen „verantwortungsvollen Dienst als Hirte der universalen Kirche" zu beten. „Mit diesem Brief führt sich die katholische Kirche selbst vor", findet Reisinger.
Der Kriminologe Christian Pfeiffer kritisierte jüngst die Missbrauchsstudie der katholischen Kirche - wegen ihrer Intransparenz und weil sie keine Konsequenzen nach sich ziehen werde. Im Gespräch mit der FR stellt er der katholischen Kirche im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen generell ein miserables Zeugnis aus: „Es ist eine Kultur der Verantwortungslosigkeit, die die Kirche hier zeigt." Der Experte fordert ein Eingreifen staatlicher Institutionen.
„Wo immer es möglich ist, müssen strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet werden", sagt der religionspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Hermann Gröhe dazu auf Anfrage der FR. Mit Blick auf die im September veröffentlichte MHG-Studie - MHG steht für die an der Studie mitwirkenden Universitäten Mannheim, Heidelberg, Gießen - über sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester verweist Gröhe auf den unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung. Auch Stefan Ruppert, religionspolitischer Sprecher der FDP Bundestagsfraktion, fordert die Strafverfolgung durch staatliche Organe und betont die Verantwortlichkeit der katholischen Kirche: „Sie muss jetzt zeigen, dass sie in Fällen sexuellen Missbrauchs konsequent eine Null-Toleranz-Politik verfolgt."
Die Grünen sehen für eine „unabhängige und tiefgreifende Aufarbeitung" der Missbrauchsfälle hingegen nicht ausschließlich die katholische Kirche in der Pflicht: „Möglicherweise muss sich hieran auch der Staat beteiligen", erklärt der religionspolitische Sprecher der Grünen, Konstantin von Notz.
Konkretere Pläne oder Forderungen nach einem Eingreifen der Bundesregierung äußerte keine der Parteien gegenüber der FR. Trotzdem findet Kriminologe Pfeiffer: „Langsam tut sich etwas." Zum Beispiel traf sich die Niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza (CDU) am vergangenen Freitag mit Vertretern der katholischen Kirche. Dabei willigten die katholischen Bistümer in Niedersachsen ein, der Staatsanwaltschaft alle Akten zugänglich zu machen und eine externe Expertenkommission einzusetzen, um Missbrauchsvorwürfe aufzudecken.
Die ehemalige Ordensschwester Doris Reisinger hingegen verurteilt das bisherige „politische Schweigen", schließlich sei die katholische Kirche als einer der größten Arbeitgeber Deutschlands und mit Vertretern in diversen Ethikräten und dem Rundfunkrat ein mächtiger Akteur. „Da kann man nicht so tun, als würde das nur die Kirche betreffen und der Staat hat da nichts mit zu tun."
Im Gespräch betont Doris Reisinger immer wieder das „große Glück", das ihr seit dem Austritt aus der Ordensgemeinschaft widerfahren sei. „Da wo Freundschaft ist, ist Gott. Wenn nicht da, wo dann?", sagt sie. Trotzdem kann - und will - sie die Erinnerungen nicht hinter sich lassen. In dem Dokumentarfilm „Female Pleasure", der seit Kurzem in den Kinos zu sehen ist, teilt sie ihre persönliche Geschichte erneut mit der Welt. „Es gibt noch andere Leute da draußen, die so sind, wie ich damals war. Und irgendjemand muss dafür sorgen, dass denen nicht das passiert, was mir passiert ist", sagt sie - und fügt entschlossen hinzu: „Weil das niemand anderes macht, muss ich das machen."
Das ist nicht bloß die Stimme eines mutmaßlichen Missbrauchsopfers, das sich alleingelassen fühlt, wie Kriminologe Pfeiffer bestätigt: „Missbrauch und Vergewaltigungen von Frauen in der Kirche sind nicht einmal untersucht worden. Das hat bisher niemanden interessiert." Deshalb gebe es auch keine Zahlen dazu, wie viele Menschen in der katholischen Kirche tatsächlich psychische oder physische Gewalt erfahren haben. Und auch wenn Zahlen dem Leid keinen Ausdruck verleihen können - so sind sie ein erster Schritt, es anzuerkennen.