"On Being Human as Praxis" wurde von Elaine Mitchener konzipiert. Dafür lud die Vokalkünstlerin die Komponist*innen Jason Yarde, Matana Roberts, Laure M. Hiendl, Tansy Davies und George E. Lewis ein, sich mit dem Werk der jamaikanischen Feministin und Kulturtheoretikerin Sylvia Wynter auseinanderzusetzen. Das Stück wurde ursprünglich von den Donaueschinger Musiktagen in Auftrag gegeben und sollte im Jahr 2020 dort uraufgeführt werden. Die Pandemie machte dem zwar einen Strich durch die Rechnung, doch die improvisationserfahrene Künstlerin und ihr Team - das Ensemble MAM. Manufaktur für aktuelle Musik und der Choreograf Dam Van Huynh sowie Tänzer*innen - disponierten um und nahmen das Stück mit nur wenigen Tagen Vorlaufzeit auf Video auf. Die Aufführung bei der diesjährigen MaerzMusik am 19. März kann dementsprechend als eine Art Uraufführung angesehen werden. Oder aber als eine erneute Iteration von Kompositionen, die sich dem Prinzip des Wandels verschrieben haben. Im Interview mit field notes-Redakteur Kristoffer Cornils sprach Mitchener darüber, wie sich dieses Stück über Veränderung im Laufe der Zeit selbst verändert hat.
Der Titel des Stücks stammt von einem von Katherine McKittrick herausgegebenen Sammelband über das Werk von Sylvia Wynter. Wie ist deine Beziehung zu Wynter?Wynter hat eine faszinierende Biografie. Sie ist Romanautorin, Dramatikerin, Kritikerin, Essayistin und Philosophin. In ihrem Werk vereint sie Erkenntnisse aus den Geistes-, Kunst- und Naturwissenschaften sowie dem antikolonialen Widerstand, um gegen das zu intervenieren, was sie als "overrepresentation of Man" bezeichnet. Ihr Kerngedanke des soziogenen Prinzips geht auf Frantz Fanons Konzept der Soziogenese zurück. Dabei handelt es sich um die Entwicklung eines sozialen Phänomens, also etwas, das sozial produziert wird und nicht ontologisch gegeben ist. Wynters Ideen zum Konzept des soziogenen Prinzips sind auch heute noch relevant.
Soziogenese ist eng mit Identitätskategorien verknüpft und damit, wie wir bestimmte Menschengruppen oder sogar das Menschsein als solches definieren.Ja. Wenn diese Themen ontologisch angegangen werden, bedeutet das, dass sie als unveränderlich oder feststehend dargestellt werden. Soziogenese verändert sich jedoch ständig, wann immer wir uns verändern oder migrieren. Zum Beispiel hat die westliche klassische Musik im Laufe der Zeit auf nicht-westliche Musik zurückgegriffen, um sich hinsichtlich Harmonie und Rhythmus weiterzuentwickeln. Das wird nicht immer anerkannt. An der Idee der Soziogenese gefällt mir, dass sie einen Bereich gelebter Erfahrungen eröffnet, der ständig in Bewegung ist - die Körperlichkeit der Zeit. Wir alle sind unterschiedlich, und die Erfahrung davon kann von all denen gemacht werden, die sich dafür offen zeigen. Das gilt auch für die Pandemie, deren Beginn mit der Entwicklung des Projekt zusammenfiel: Als die Zeit "stehen blieb", erlebten wir eine seismische Verschiebung in der Art und Weise, wie die Menschen ihre Umgebung bewohnten. Gleichzeitig wurden wir Zeug*innen einer Beschleunigung sozialer Proteste, die sich gegen bestehende Ungerechtigkeiten richteten. Die Welt reagierte sensibel auf ihre Umgebung, sowohl auf menschlicher als auch auf ökologischer Ebene. Diese Ereignisse waren nicht ohne Weiteres zu ignorieren, und das entfachte eine bestimmte Art von Energie. Das war eine gemeinsame gelebte Erfahrung.