"LIFTED" war das Durchbruchsalbum von Bright Eyes. Auf ihm erzählte Conor Oberst von versperrten Zukunftsperspektiven und messianischen Versprechen - von post-apokalyptischen Einsichten.
Als in den USA das 20. Jahrhundert am 11. September 2001 zu Ende ging, war Conor Oberst gerade mit seiner Band Desaparecidos im Studio. Ihr Debütalbum "Read Music/Speak Spanish" sezierte mit Wut und Hohn die US-amerikanische Ideologie und die davon getragenen Missstände im Land und wurde im Chaos nach dem Attentat auf das World Trade Center fürs Erste auf Eis gelegt: Es war auf eine Art zu zeitgenössisch, legte den Finger zu tief in die frische Wunde. Zwei Monate jedoch später ging Oberst erneut ins Studio, um sich wieder seinem Projekt Bright Eyes mit Mike Mogis und einem sich ständig drehenden Karussell von Gastmusiker:innen aus der Szene Nebraskas zu widmen. "LIFTED or The Story Is in the Soil, Keep Your Ear to the Ground" erschien im August 2002 und sollte ihren endgültigen Durchbruch markieren. Womöglich auch, weil es nicht die äußeren Gegebenheiten, sondern innere Zustände auf den Prüfstand stellte.
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Als "LIFTED" erschien, war Oberst 22 Jahre alt und schon seit zehn Jahren im Geschäft, er hatte in einem guten Dutzend Bands gespielt. Bright Eyes hatte er als Teenager im Keller seines Elternhauses gegründet und für die Aufnahmen Personal und Instrumentarium konstant erweitert, elektronische Elemente als auch Zitate klassischer Musik in seine Musik einfließen lassen. Im Zentrum jedoch stand ein Folk-Verständnis, das auf dem Studium Bob Dylans ebenso fußte wie es die Sensibilität eines Nick Drake und die hemdsärmeligen Kaputtheit eines Neil Youngs mit der Exzentrik eines Daniel Johnston miteinander vereinte. Auch schlug es Brücken zu verschiedenen Depri-Rock-Strömungen der 1980er- und 90er-Jahre: Bitter und kalt wie The Cure in ihren düstersten Momente, bisweilen explosiv wie die Grunge-Generation, desolat wie viele andere Bands des Roster seines Labels Saddle Creek oder selbstmitleidig wie die dritte Welle von Emo-Bands, mit deren Vertreterinnen Oberst als Teil von Desaparecidos die Bühne teilte.
Ein abgründiger und kaputter Mensch, ein sympathischer Typ.
Conor Oberst persiflierte das selbst, doch blieb der Makel des Wehleidigen an ihm haften - was seiner Karriere wiederum zum Vorteil gereichte. Denn der spindeldürre Typ mit dem verstrubbelten Scheitel hatte Charisma und traf den Nerv der Zeit. Er repräsentierte einen neuen Typus Rockstar, der auf einem komplexeren Männlichkeitsbild als noch das der Grunge-Generation beruhte: Hyperintim und doch komplett durchlässig, selbstreflektiert und -zerstörerisch, eloquent und vulgär, verzweifelt und angepisst, Autodidakt und Alleskönner, brütendes Genie und nimmermüder Teamplayer. Ein abgründiger und kaputter Mensch, ein sympathischer Typ. Einer, der oft "Ich" sagte und dabei nicht sich selbst meinte, weshalb er vielen das Gefühl gab, für sie zu sprechen. Der auf den Punkt brachte, dass das Problem nicht darin bestand, dass niemand mehr glauben wollte - sondern dass sich stattdessen alle fragten, warum sie überhaupt irgendetwas glauben sollten.
Nach der ApokalypseFast ein Jahr nach 9/11 gab "LIFTED" auf solcherlei umfassende Fragen nach dem Sinn und Zweck des Lebens keine Antwort. Stattdessen jedoch gab es seinem Publikum das Gefühl, dass sie noch dringender als zuvor gestellt werden mussten. "The picture's far too big to look at, kid / Your eyes won't open wide enough / And you're constantly surrounded / By the swirling stream of what is and what was ", lauten die ersten von Oberst gesungenen Zeilen dieser Platte und eine bessere Umschreibung der Welterfahrung der CNN- und DSL-Generation hätte wohl nicht gefunden werden können. "The Big Picture" stellt aber in erster Linie eine Abrechnung mit der Elterngeneration dar, die ihr die Perspektiven geraubt hatte: Das Wort "lifted" im Albumtitel, das auch in der letzten Zeile des nach fast neun Minuten abrupt abbrechenden Stücks auftaucht, lässt sich je nach Kontext mit "gestohlen" übersetzen. Zugleich schreibt sich die Verwendung des Begriffs aber auch aus der christlichen Literatur her, dem biblischen Versprechen der Entrückung - ins Himmelreich "gehoben" zu werden.
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