Im März 2020 ging die Konzertbranche in einen Corona-Lockdown, der eine paradoxe Situation auslöste. Nichts passierte, und doch gab es mehr denn je zu tun: Tourneen und Festivals mussten auf Herbst, dann Frühling oder Sommer verlegt werden, nur um anschließend in den meisten Fällen noch einmal verschoben zu werden. Doch als im Frühjahr 2022 die Corona-Auflagen fielen und Liveshows wieder vollumfänglich stattfinden konnten, stellte sich das Licht am Ende eines langen Tunnels als Zug heraus, der der Branche entgegenrast. Statt ausverkaufte Hallen vermelden zu können, haben die meisten Veranstalter aktuell mit katastrophalen Vorverkaufszahlen und daraus resultierenden Tournee-Absagen zu kämpfen.
Seit vergangenem Sommer melden sich immer häufiger Bands und Künstlerinnen aus aller Welt mit Instagram-Posts, auf denen durchgestrichene Tourdaten zu sehen sind. Im Text unter dem Bild stand zunächst meist etwas von "logistischen Gründen" oder ähnlich schwammigen Begründungen. Mit der Zeit ist der Ton jedoch deutlicher geworden. Die US-Band Animal Collective, seit Mitte der Nullerjahre einer der beliebtesten Art-Pop-Acts überhaupt, begründete ihre Absage von 17 Europakonzerten mit "Inflation und Währungsabwertung" sowie "explodierenden Transportkosten" für ihr Equipment. Unter anderem deshalb sei es unmöglich gewesen, eine Tour auf die Beine zu stellen, bei der Animal Collective am Ende nicht draufgezahlt hätte.
Mit noch drastischeren Worten erklärte die ähnlich populäre Musikerin Santigold die Absage ihrer geplanten US- und Europatour: "Ich werde mich nicht länger für eine Industrie aufopfern", schrieb sie, "die kein Interesse an den Künstlerinnen und Künstlern hat, ohne die es sie gar nicht gäbe." Selbst Ed Sheeran sagte einen Zusatztermin seiner Neuseelandtour mit dem Verweis auf "laufende Unsicherheiten bezüglich internationaler Tourneen" ab. Und dann erwischte es auch noch Tocotronic. Die langlebige Rockband, die eigentlich noch immer zu den zugkräftigsten in Deutschland gehört, verschiebt neun geplante Auftritte. Die Begründung war nun eine neue: "Im Augenblick sind die Vorverkäufe zu schwach, als dass sich eine Durchführung der Tour für die Clubs, die örtlichen Veranstalter*innen, uns und unsere Crew gerechnet hätte", heißt es in einem Statement dazu.
Bei der Metalband Mantar begann eine entsprechende Nachricht Mitte August mit den Worten: "Das wird jetzt kurz wehtun". Etwa ein Drittel ihrer geplanten musste die Gruppe absagen oder verschieben, was in der Szene Überraschung auslöste. Mantar sind seit ihrer Gründung im Jahr 2014 scheinbar unaufhaltsam populärer geworden, sie standen bei einigen der größten Plattenfirmen des Genres unter Vertrag und mit ihren Alben sogar in den Charts. Eine Erfolgsgeschichte? Zweifellos, doch stellt sich deren Erzählung bei genauerer Betrachtung komplex dar. Der Schlagzeuger Erinç Sakarya und der Sänger und Gitarrist Hanno Klänhardt haben in den ersten Jahren ihrer gemeinsamen Karriere praktisch in Tourbus und Proberaum gelebt, wenn nicht gerade jemand eine Couch anbot. "Drei Jahre lang hatten wir kein Geld, gar nichts", erzählt Klänhardt im Gespräch mit ZEIT ONLINE.
Weil die beiden zuvor sparsam gehaushaltet hätten, seien sie weitgehend unbeschadet durch die Pandemie gekommen, sagt er weiter. Das angesparte stammte aber nicht aus Plattenverkäufen oder Streamingtantiemen, sondern aus dem Livegeschäft, dessen Einnahmen schon seit geraumer Zeit für die meisten Künstlerinnen und Künstler existenziell sind. Zusätzlich zu ihren Gagen würden Mantar bei gut laufenden Konzerten noch einmal den gleichen Betrag durch Merchandise-Verkäufe umsetzen, sagt Klänhardt. "Deshalb können wir existieren." Eine Realität, die in der Branche alle kennen, während Fans davon nur selten etwas mitbekommen.
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