Jedes Stück Musik hat nicht nur eine Geschichte, sondern erzählt auch
etwas über Geschichte beziehungsweise reflektiert im Kleinen die
größeren historischen Zusammenhänge, in denen es entstand. So zum
Beispiel die Compilation »Sounds of Absence« auf dem Field-Recordings- und Klangkunst-Label
Grünrekorder.
Über 17 Stücke hinweg befassen sich darauf so unterschiedliche
Künstler*innen wie Alvin Curran, Haco oder Viola Yip mit der Frage, wie
der gesellschaftliche Stillstand während einzelner Lockdowns und die
damit einhergehende soziale Isolation sich auf ästhetischer Ebene
äußerten. Das Ergebnis ist so heterogen wie die konzeptionellen Ansätze
der Beteiligten, die Compilation als solche aber ein wichtiges
historisches Dokument.
Der ebenfalls auf »Sounds of Absence« mit einem Stück vertretene Joseph Kamaru beziehungsweise KMRU nutzt das Album »Temporary Stores«
hingegen für eine kritische Intervention bezüglich der Aneignung,
Archivierung und Musealisierung, heißt auch Kommodifizierung, der
Artefakte früherer Kolonien durch Institutionen des globalen Nordens.
Dafür arbeitet er mit dem Klangarchiv des Royal Museum of Central Africa
und versteht die verwendeten Klänge als Verbindungslinien zwischen
verschiedenen Generationen beziehungsweise der Vergangenheit und der
Zukunft. Somit stellen die sechs Einzelstücke sowie das 50-minütige
radiophonische Stücke gleichermaßen aktiv geübte historische Kritik dar,
wie sie selbst die Bedingungen von Geschichtsschreibung als solche
infrage stellen.
À propos Zukunft: Frédéric Acquaviva hat für sein
Mammutprojekt, das kürzlich auf CD erschienene Klangkunststück »[səminal]«,
124 Musiker*innen um die Aufnahme von jeweils einem einzigen Ton auf
dem Instrument ihrer Wahl angefragt, um damit ein von Jacques Lizène,
Joan La Barbara, Loré Lixenberg, ORLAN und Wills Morgan vorgetragenes
Narrativ vom Ende der Welt – und also der Geschichte überhaupt – zu
vertonen. Es geht erst 10.000, dann mehr als 50 Milliarden Jahre in die
Zukunft. So wie sich Acquavivas zwischen den Jahren 2020 und 2021
entstandenes Stück einerseits wie »Sounds of Absence« als Reaktion auf
konkrete tagesaktuelle Umstände verstehen ließe, so stellt es
andererseits wie »Temporary Stored« die Frage nach der allzu
menschlichen Konstruktion der Geschichtsschreibung überhaupt.
Bevor das Magnetfeld der Erde erlischt und ein riesiger Meteorit
darauf einschlägt, ist indes noch etwas Zeit für die folgenden 16
Musikveröffentlichungen und drei Bücher über, die wir Ihnen und Euch ans
Herz legen wollen. Immerhin!
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