Es gab Zeiten, in denen sich Meike Modersitzki etwas anderes für ihr Leben ausmalte. Immer mal wieder blitzten diese Vorstellungen im Laufe der Jahre auf: Da waren Träume von einem Sportstudium, einer eigenen Wohnung mit großen Bücherregalen für die vielen Psychothriller, die sie so gerne liest. Eine Heirat mit ihrer großen Liebe Luby, ein Hund, selbstgekochtes Essen. Nicht spießig im klassischen Sinne, aber doch irgendwie bürgerlich. Es gab Zeiten, da sah es so aus, als wären diese Wünsche gar nicht weit entfernt. Doch von Dauer war das nie. Dazwischen kamen Schicksalsschläge, Pech – meistens jedoch die Drogen. Im Fall von Meike Modersitzki vor allem Heroin.
Die 52-Jährige gehört zu den Menschen, die den Großteil ihres Alltags rund um den Bremer Hauptbahnhof verbringen – und die man dort am liebsten nicht mehr sehen möchte. „Ich vergleiche das gerne mit Tieren, die immer weiter aus ihrem natürlichen Lebensraum verdrängt werden“, sagt Modersitzki. Zu viele Probleme gab es in den vergangenen Monaten mit der Drogenszene. Offener Konsum, Dreck, Pöbeleien, Kriminalität, eine Umgebung, die dazu führte, dass viele Bremerinnen und Bremer den Ort mieden – der Druck auf Politik und Ordnungsbehörden wuchs. Es folgten ein umfangreicher Aktionsplan und diverse Maßnahmen, bisher mit mittelmäßigem Erfolg.
Die Gruppe, um die es dabei geht, kommt in der öffentlichen Debatte um den Bahnhof nur selten zu Wort. Einige schaffen das aufgrund ihres Zustandes nicht, andere werden gar nicht erst gefragt. Meike Modersitzki stört das. „Ihr müsst mehr mit uns sprechen“, sagt sie. Mit „ihr“ meint sie die Medien und die Politik, Entscheidungsträger. Für ein bisschen mehr Verständnis ist sie bereit, ihren Alltag und ihre Geschichte, wie sie sie wahrnimmt, zu teilen.Die Gruppe, um die es dabei geht, kommt in der öffentlichen Debatte um den Bahnhof nur selten zu Wort. Einige schaffen das aufgrund ihres Zustandes nicht, andere werden gar nicht erst gefragt. Meike Modersitzki stört das. „Ihr müsst mehr mit uns sprechen“, sagt sie. Mit „ihr“ meint sie die Medien und die Politik, Entscheidungsträger. Für ein bisschen mehr Verständnis ist sie bereit, ihren Alltag und ihre Geschichte, wie sie sie wahrnimmt, zu teilen.
Substitution und Bier zum Frühstück
Der Tag startet früh und wird meist von Hustenanfällen begleitet, der jahrelange Konsum ist nicht spurlos an ihrem Körper vorbeigegangen. Wie fast jeden Morgen wird Modersitzki um acht Uhr beim Arzt erwartet. „Pola abholen“, sagt sie. „Pola“ steht für Polamidon und wird neben anderen Ersatzstoffen wie Methadon zur Substitutionsbehandlung verwendet. Dabei wird illegales Heroin durch ein ärztlich verschriebenes Opioid ersetzt. Clean ist Modersitzki deshalb nicht, sagt sie, aber sie komme besser durch den Alltag und konsumiere weniger als früher.
Danach geht es direkt zum Bahnhof, die erste Station führt zu einem Discounter. Bier kaufen, möglichst günstig, 55 Cent kostet der halbe Liter. Es ist nicht das letzte Mal, dass Modersitzki an diesem Tag zum Supermarkt läuft und sich eine neue Dose besorgt. Nicht, weil sie das Bier ausgetrunken hat, es ist nur schal geworden. „Ich brauche vom Kopf her ein Bier in der Hand, das hat etwas mit Suchtverlagerung zu tun“, sagt sie. Danach lässt sie sich treiben, schnorrt in der Regel ein bisschen. Irgendwas passiert immer, irgendwen trifft man immer.
Der Bahnhof ist für viele ein Stück Heimat mit wichtigen Anlaufstellen und der Gewissheit, auf Gleichgesinnte zu treffen. Nicht alle sind obdachlos, viele machen es wie Modersitzki: nachts entweder in der eigenen Wohnung oder bei anderen schlafen, morgens zum Bahnhof fahren, Ende offen. Die Menschen, die zur „Szene“ zählen, lassen sich nicht in eine Schublade stecken und sind für Beratungsstellen und Behörden zahlenmäßig nur schwer zu erfassen. Da gibt es Alkoholkranke, Obdachlose, Drogenabhängige. Jene, die sich schon jahrelang in dem Umfeld aufhalten, und solche, die täglich neu dazukommen, darunter zuletzt viele Flüchtlinge.
Mit elf die erste Spritze Heroin
Modersitzki beschreibt sich selbst als Einzelgängerin. Hier und da ein Gespräch, ein paar nette Stunden zusammen, mehr aber nicht. Vertrauen aufzubauen, falle ihr schwer: „Es reicht schon, dass ich mir selbst vertrauen muss.“ Sie kommt ursprünglich aus Bremerhaven. Dort verbringt sie jedoch nur ihre ersten Lebensjahre, muss ins Kinderheim nach Hamburg, weil ihre alleinerziehende Mutter überfordert ist. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr bleibt sie in der Einrichtung. „Es ging mir trotz allem ganz gut, ich habe immerhin meinen Realschulabschluss gemacht“, sagt sie.
Dennoch kommt sie früh mit Drogen in Kontakt. Am nahe gelegenen Kanal kifft sie mit anderen Heimkindern, wenig später folgt schon das Heroin. Mit elf Jahren setzt sie sich die erste Spritze und lernt das Gefühl kennen, nach dem sie ihr Leben lang süchtig wird: „Eine Wärme, als ob man in Watte gepackt wäre. Du vergisst alles um dich herum.“ Als sie 19 wird, geht es das erste Mal zur Langzeittherapie. „Das waren andere Zeiten damals in Hamburg“, erinnert sich Modersitzki. Die 80er-Jahre. Die Kinder hätten ihr Taschengeld zusammengelegt und Autos gewaschen. „Anschließend haben wir bei Privatadressen geklingelt, um den Stoff zu kaufen. Wenn du kein Geld hattest, hast du beim Dealer schon mal den Walkman als Pfand hinterlegt und nächstes Mal wieder ausgelöst.“
Zurück ins Hier und Jetzt. Auf dem Weg vom Supermarkt durch den Bahnhof sieht Modersitzki eine Frau, die sichtlich unter Drogen steht, hilflos neben einem Fahrstuhl kauern. Sofort läuft sie hin und richtet sie auf, zupft ihre Kleidung zurecht. „Das ist eine von uns“, sagt sie. Es ist eine der Situationen, die die Süchtige fassungslos machen. „Da fragt keiner, ob alles in Ordnung ist. Die Leute gehen einfach vorbei.“
Wunsch nach mehr Respekt
Auf dem Platz der Deutschen Einheit vor dem Übersee-Museum wird an diesem Tag eine Freizeitbahn für Rad- und Rollerfahrer eingeweiht – es soll der Auftakt für eine neue Bespielung der Fläche sein. Das sorgt für Aufsehen, die Plätze am Rand sind gut gefüllt. Modersitzki setzt sich und dreht einen Joint – kiffen gehört täglich dazu. Zur Eröffnung sind auch ein paar Stadtobere gekommen. Während sie sich vor der Bahn fotografieren lassen, startet auf den Steinstufen am Rand ein lautstarker Streit. Die Schadenfreude kann sich Modersitzki nicht verkneifen: „Das ist denen sichtlich unangenehm. Willkommen am Hauptbahnhof.“
In der Nähe des Haltestellenbereichs parkt ein Polizeiauto. Ordnungskräfte laufen bei den Sitzbänken auf und ab. Junkie-Jogging sagen Szenemitglieder dazu und meinen damit die vielen Kontrollen der vergangenen Wochen und Monate, mit denen die Innenbehörde die Drogenszene aufscheuchen will. Mehrere der Süchtigen erzählen an diesem Tag, sie hätten den Eindruck, die Maßnahmen seien nicht verhältnismäßig, werfen Polizei, Ordnungsdiensten und Bahnhofs-Security vor, gegenüber Drogenkranken teils herabwürdigend zu agieren. Überprüfen lassen sich solche Anschuldigungen nur schwer. Dahinter steckt der Wunsch nach mehr Respekt, nicht nur von Ordnungsdiensten, auch von Passanten, sagt Modersitzki.
Bahnhofsumfeld ist rauer geworden
Bei all dem Unmut kann die 52-Jährige trotzdem nachvollziehen, dass das Verhalten vieler Szeneangehöriger als problematisch angesehen wird und sich Bürger an den Zuständen stören. Ein friedliches Miteinander ist eine Herausforderung. Der Umgang sei rauer geworden, sie selbst sei bereits einige Male ausgeraubt worden, auch die Hilfe untereinander sei weniger geworden. Immer wieder beschwert sich Modersitzki auch über die Müllansammlungen, die sich rund um den Bahnhof verteilen. Blut und Fäkalien an den Wänden findet sie beschämend. Durch die rasant wachsende Crackszene habe sich die Problematik verschärft. „Einige schaffen es nicht mehr, sich regelmäßig zu waschen, zu essen, zu schlafen. Denen ist alles egal.“
Doch auch sie konsumiert nahezu täglich die gefährliche Droge, wenn auch in Maßen, sagt sie zumindest. Ab fünf Euro bekommt man am Bahnhof einen sogenannten Crackstein, der aus Kokainsalz und Natriumhydrogencarbonat hergestellt und in einer speziellen Pfeife geraucht wird. Die Wirkung beschreiben Süchtige oft mit Sätzen wie „als fahre ein Zug durch den Kopf“. Der Rausch hält nur wenige Minuten, dann setzt der Suchtdruck bei vielen wieder ein. Substitution gibt es dafür bisher nicht, was die Bekämpfung der Droge erschwert.
"Das hat nichts Freundliches"
Weiter geht es in die Friedrich-Rauers-Straße. Dort hat die Stadt vor einigen Monaten eine Fläche ausgewiesen, auf der die Szene sich ungestörter aufhalten kann. Gerade sind zwei große Container angeliefert worden. Die Ersten haben sich unter der Überdachung bereits häuslich eingerichtet, unweit davon köcheln einige ihre Drogen, es riecht verbrannt. Modersitzki kann dem neuen Angebot nicht viel abgewinnen. „Das hat nichts Freundliches und am schlimmsten finde ich, dass man die Container nicht richtig einsehen kann. Was, wenn dort mal einer von uns Hilfe benötigt?“, sagt sie. Schnell zückt sie ihr Handy und macht ein Foto, um später eine negative Google-Bewertung zu schreiben. Modersitzkis eigener kleiner Protest.
Gegenüber den Containern befindet sich Bremens provisorischer Drogenkonsumraum, den die Hilfeeinrichtung Comeback betreibt und in dem Abhängige unter hygienischen Bedingungen ihre illegal erworbenen Substanzen legal konsumieren dürfen. Modersitzki und viele ihrer Bekannten sind fast täglich dort. „In Bremen gibt es gute soziale Angebote und viele Freiwillige, ohne die wir besonders während der Pandemie komplett aufgeschmissen gewesen wären“, sagt sie. Dazu zähle auch das „Frieda-Projekt“, ein Zusammenschluss engagierter Privatleute, die unter anderem einmal in der Woche Essen an Obdachlose ausgeben. Am Nachmittag werden sich an dem Stand zahlreiche Menschen ihre erste vollwertige Mahlzeit des Tages abholen.
Der Rückweg zum Bahnhof führt an den Künstlerateliers des alten Güterbahnhofs vorbei. Dort gibt es einen kleinen Unterstand, der für Modersitzki eine große Bedeutung hat. In dem Verschlag hat sie häufig übernachtet, als sie selbst noch „Platte gemacht hat“ und ohne Unterkunft dastand. Aktuell übernachtet sie bei einem Freund, im vergangenen Jahr hat sie eine eigene Wohnung über das Projekt Housing-First bekommen, das Obdachlosen Wohnraum vermittelt. Obwohl sie dort nach eigenen Angaben Strom bezahlt, fehlte ihr bisher die Kraft, die Wohnung einzurichten und tatsächlich darin zu leben. Das soll sich dieses Jahr ändern, hat sie sich vorgenommen.
Immer mal wieder clean
Neu ist eine eigene Wohnung für die Bremerin nicht. Phasenweise sah es so aus, als hätte sie den Absprung geschafft. 14 Jahre lang sei sie zwischenzeitlich clean gewesen, machte eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin, arbeitete in Bremerhaven in einem Imbiss und teilte sich ihr Apartment mit Hund Luigi. 2002 dann der große Rückfall. Warum? „Wenn mir das einer beantworten könnte. Ich schätze, ich war einfach neugierig.“ Danach schafft sie es nie wieder, mehrere Jahre am Stück clean zu leben oder dauerhaft ins Berufsleben zurückzukehren.
Aktuell bezieht Modersitzki Bürgergeld, viel bleibe davon nicht übrig. Sie müsse noch eine Strafe wegen verbotenen Alkoholkonsums im Bahnhof abbezahlen, Energiekosten für ihre Wohnung, die Monatskarte für die öffentlichen Verkehrsmittel, den Tabak. Um aufzustocken, geht sie schnorren und Pfand sammeln. 20 bis 40 Euro benötige sie am Tag, um ihre Sucht zu finanzieren.
Verliebt im Frauengefängnis
Der Alltag am Bahnhof ist für keinen leicht, besonders für Frauen nicht. Das fängt mit den Toiletten an. Für Männer wurden Pissoire aufgestellt. „Und wo sollen wir hin, wenn wir die öffentliche Toilette nicht zahlen können?“, sagt Modersitzki. Sie selbst ziehe sich zwischen die Autos auf der Bürgerweide zurück. Auch sexuelle Belästigung sei keine Ausnahme. „Was meinst du, was man als Frau hier aushalten muss? Viele prostituieren sich, um ihren Konsum zu finanzieren.“ Diesen Schritt sei sie nie gegangen. Dafür fand sie andere Wege, um sich Drogen zu beschaffen, und die waren nicht immer legal. Sie stiehlt, verkauft bestellte Kleidung aus dem Internet weiter und fängt selbst an zu dealen. Zweimal muss sie dafür ins Frauengefängnis, sitzt insgesamt rund vier Jahre ein.
Währenddessen lernt sie Luba kennen, Spitzname Luby. Die beiden Frauen hassen sich zunächst, später wird daraus Liebe. Modersitzki, die damals bereits eine gescheiterte Ehe mit einem Mann hinter sich hat, verlobt sich mit der gebürtigen Russin. Viel gemeinsame Zeit bleibt ihnen jedoch nicht. Luba stirbt wenige Jahre später an den Folgen einer missglückten Operation und ihres Drogenkonsums. Der Schmerz sitzt tief und steht Modersitzki noch heute ins Gesicht geschrieben, wenn sie darüber redet. „Ich bin ein gebranntes Kind.“ Ihren alten Verlobungsring trägt sie noch, den Namen ihrer ehemaligen Freundin hat sie sich quer über den Hals tätowieren lassen. Wenigstens der soll für immer bleiben.
"Dass ich so alt werde, hätte ich früher nicht gedacht"
Modersitzki hat viele Wegbegleiter in den vergangenen Jahren sterben sehen. Am Bahnhof verraten hin und wieder kleine Ansammlungen von Kerzen und Kuscheltieren, dass ein neuer Drogentoter hinzugekommen ist. Und auch aus ihrer Familie ist kaum einer geblieben. Mutter und Vater sind früh gestorben. Ihre Schwester wohnt inzwischen in den USA, die beiden haben keinen Kontakt.
Mit über 50 kreisen ihre Gedanken deshalb nicht selten um ihre eigene Zukunft. „Dass ich so alt werde, hätte ich früher nicht gedacht“, sagt sie. Schafft sie den Ausstieg noch einmal oder wird sie als alte Frau weiterhin ihre Runden am Bahnhof drehen? Meike Modersitzki weiß es selbst nicht so recht. „Man sagt ja, Süchtige seien auf der Suche nach etwas. Vielleicht suche ich noch immer.“