Wolf Dermann engagiert sich dafür, dass mehr Kinder aus Nicht-Akademiker-Haushalten studieren. Er ist froh, dass es Bafög gibt. Doch er weiß auch: Die jetzigen Regelungen schließen zu viele aus – und schrecken ab.
SPIEGEL: Herr Dermann, während schon kurz nach Einführung des Bafög im Jahr 1971 fast jeder zweite Studierende gefördert wurde, bekommen mittlerweile nur noch elf Prozent die Leistung. Hat das Bafög zuletzt sein Ziel nicht mehr erreicht, nämlich Menschen dabei zu helfen, ein Studium zu finanzieren?
Dermann: Die sinkende Förderquote ist sicherlich ein Problem. Das Bafög als Sozialleistung ist durch etliche Änderungen über die Jahrzehnte immer komplexer geworden - das verunsichert viele Antragsberechtigte. Deshalb fordern immer mehr Institutionen wie die Hochschulrektorenkonferenz oder das Deutsche Studentenwerk eine Reform der staatlichen Ausbildungsförderung.
SPIEGEL: Als Mitgründer von Arbeiterkind.de haben Sie besonders die Interessen von Schüler:innen und Studierenden im Blick, die aus nicht akademischen Haushalten stammen. Wo liegen aus Ihrer Sicht die größten Probleme?
Dermann: Übersehen wird oft die Frage, ob das Bafög wirklich rechtzeitig startet. Gerade zu Studienbeginn fallen für Studierende hohe Ausgaben an: Gebühren für das Semesterticket, eventuell ein Umzug in eine andere Stadt, Kaution, Miete sowie Ausstattung in Form von Büchern oder einem Laptop. Da kommen bereits im September 1000 Euro und mehr zusammen. Doch häufig erhalten die Studierenden die erste Bafög-Zahlung erst im November oder Dezember, ein zusätzliches Darlehen für die genannten Ausgaben gibt es nicht. Wenn nicht irgendwo eine reiche Tante sitzt, ist das für Abiturienten aus Elternhäusern mit niedrigem Einkommen kaum zu leisten und schreckt ab. Da bräuchte es ein schnelleres und vereinfachtes Verfahren. Ein anderes Problem ist die Planbarkeit.
SPIEGEL: Inwiefern?
Dermann: Viele Studierende wissen nicht genau, wie viel Bafög sie bekommen würden. Es gibt zwar im Internet Bafög-Rechner von privaten Anbietern, aber es fehlt ein offizielles Angebot, das verlässliche und belastbare Zahlen liefert. So erfahren viele erst durch einen Antrag, ob und in welcher Höhe sie Fördergeld bekommen. Oft werden gerade kleinere Bafög-Beträge nicht ausgezahlt, weil Studierende annehmen, sie hätten keinen Anspruch darauf.
SPIEGEL: Ihr Angebot richtet sich vor allem an Schüler:innen aus Familien ohne Hochschulerfahrung. Kennen die meisten Bafög überhaupt?
Dermann: Bei unserer Arbeit in Schulen merken wir, dass fast alle Schüler:innen den Begriff Bafög zwar schon einmal gehört haben. Sie wissen aber nicht genau, was sich dahinter verbirgt und welche Voraussetzungen daran geknüpft sind. Wir klären deshalb auf und machen zum Teil richtig Werbung für das Bafög, weil es trotz aller Kritik noch immer die Grundfinanzierung für das Studium sein kann und jungen Menschen diese Chance erst ermöglicht.
SPIEGEL: Welche Erfahrungen machen Sie mit den Schüler:innen noch?
Dermann: Beschäftigen sie sich näher mit Bafög, sehen sie zuerst einmal einen Haufen Bürokratie. Zwar kann man das eigene Formular an einem Nachmittag ausfüllen, die Unterlagen - insbesondere von den Eltern - zu besorgen, braucht aber oft die ein oder andere Woche. Doch es gibt auch Hilfe, etwa bei den Studierendenwerken oder bei Organisationen wie unserer.
SPIEGEL: Die Hälfte der ausgezahlten Förderung muss nach dem Ende des Studiums zurückgezahlt werden. Versteckt sich hinter den sinkenden Anträgen auch die Sorge vor einer Überschuldung?
Dermann: Die maximale Rückzahlungsmenge ist auf 10.000 Euro begrenzt, das wissen viele nicht. Da versuchen wir, Ängste zu nehmen und klarzumachen, dass das im Verhältnis zu der Summe, die sie über das gesamte Studium als Förderung erhalten, nur ein kleiner Teil ist. Trotzdem hört sich das für junge Menschen erst mal abschreckend an, besonders, wenn zu Hause das Geld knapp ist. Und es ist natürlich etwas anderes, wenn ich mit 10.000 Euro Schulden ins Berufsleben starte.
SPIEGEL: Halten Sie es für gerecht, den Bafög-Satz an das Einkommen der Eltern oder der Partner:innen zu koppeln?
Dermann: Es würde erwachsenen Studierenden eher gerecht werden, wenn man sie nicht mehr wie Kinder behandeln würde und unabhängig von den Eltern fördert. Das würde auch viel Bürokratie ersparen. Aber es ist eben auch eine hochgradig politische Frage, weil es dabei um sehr viel Geld geht. Im Wahlkampf haben wir jetzt die Chance, genau hinzuschauen, wie die Parteien mit dem Thema umgehen. Aktuell liegen die Bafög-Ausgaben bei knapp drei Milliarden Euro im Jahr. Wenn künftig jeder der knapp drei Millionen Studierenden Bafög erhalten würde, entstünden enorme Kosten. Den Posten kann man nicht mal eben so in den Bundeshaushalt einbauen.
SPIEGEL: Führt der Weg über die Eltern in der Praxis oft zu Problemen?
Dermann: Zuerst auf das Gehalt und die Unterhaltspflicht der Eltern zu schauen, erfordert viel Papierkram. Die Studierenden müssen ihre Eltern fragen, wie viel sie verdienen, alles muss offengelegt und eventuell nachgewiesen werden. Angesichts dessen, was man dafür bekommt, könnte man sagen, es ist trotzdem noch ein moderater Aufwand. Dennoch sagen viele, ihnen sei das zu kompliziert. Probleme gibt es auch, wenn das Verhältnis zu den Eltern schwierig ist. Da gibt es zwar Mittel und Wege, und das Amt kann Forderungen schicken, aber dann hängt der Haussegen erst recht schief.
SPIEGEL: Ist es noch zeitgemäß, dass in der Regel nur bezugsberechtigt ist, wer in Vollzeit studiert und jünger als 35 Jahre alt ist?
Dermann: Es ist sicherlich wichtig, auch bei dieser Gruppe noch einmal nachzusteuern. Ich glaube aber, dass der große Reformbedarf des Bafög woanders liegt. Das Kernproblem liegt eher bei den regulären Abiturienten, die sich nicht trauen, Bafög zu beantragen oder die zu Unrecht aus der Förderung fallen.
SPIEGEL: Der Bafög-Höchstsatz - den längst nicht alle Geförderten bekommen - beträgt für Studierende derzeit 861 Euro pro Monat. Reicht das aus?
Dermann: Zunächst einmal ist der Höchstsatz von 861 Euro etwas kurios definiert, darin enthalten sind nämlich Zuschüsse für die Kranken- und Pflegeversicherung. Die bekommt aber fast keiner, weil die meisten unter 25-Jährigen über ihre Eltern mitversichert sind. Deshalb liegt der realistischere Höchstsatz bei 752 Euro im Monat. Davon sind 427 Euro Grundbedarf, die Wohnpauschale beträgt 325 Euro. Damit kommt man gerade in größeren Städten aber kaum aus, weil WG-Zimmer und Lebenshaltungskosten häufig teurer sind. Und es sind eben keine Sätze für den Start an der Uni berücksichtigt. Läuft irgendetwas schief, etwa dass man wie jetzt in der Coronapandemie seinen Nebenjob verliert, dann sind die Probleme groß.
Zur Person
Wolf Dermann ist Mitgründer und stellvertretender Geschäftsführer bei Arbeiterkind.de. Die Organisation will Schüler:innen aus Familien ohne Hochschulerfahrung ermutigen, als Erste in ihrer Familie zu studieren. 6000 Ehrenamtliche engagieren sich dafür bundesweit, um über die Möglichkeit eines Studiums zu informieren und Schülerinnen und Schüler auf ihrem Weg vom Studieneinstieg bis zum Studienabschluss und Berufseinstieg zu unterstützen.