Carola Rackete: Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass sich viele Kapitäne und Menschen aus der Schifffahrtsbranche positiv zu dem Einsatz geäußert haben, denn nicht immer bekommen wir so viel Zuspruch. Den Kapitänstag sehe ich als Gelegenheit und Chance, mit anderen Kapitänen über die Notwendigkeit der Rettungen ins Gespräch zu kommen und sie möglicherweise zu motivieren, sich dort selbst zu engagieren.
Es ist ein Grundsatz für Kapitäne, Menschen in Seenot zu retten und sie in den nächsten sicheren Hafen zu bringen. Warum wurde dieses Gebot in den vergangenen Monaten trotzdem derart infrage gestellt?Der Fall der Seenotrettung ist jedem Kapitän klar. Der eigentliche Kern der Diskussion ist nicht, ob die Menschen gerettet werden müssen, sondern warum sie überhaupt in Seenot geraten. Menschen fliehen aus einem Bürgerkriegsland, und weil es keine sicheren Fluchtwege gibt, müssen sie Boote nutzen, in die wir uns niemals hineinsetzen würden. Das Problem ist nicht das Seerecht, sondern Rassismus.
Inwiefern?Niemals würden wir eine schiffbrüchige Person mit europäischem Pass in ein Bürgerkriegsland bringen und behaupten, es gäbe dort einen sicheren Hafen für sie. Ob ein Hafen sicher ist oder nicht, kann nicht vom Pass oder Herkunft einer Person abhängen, denn vor dem Recht sind alle Menschen gleich.
Wer die Debatte zum Thema Seenotrettung verfolgt, könnte schnell den Eindruck gewinnen, dass es zwei verhärtete Fronten gibt - die, die bedingungslos unterstützt, und die, die voller Hass ist. Eine sachliche Auseinandersetzung scheint kaum mehr möglich. Deckt sich das mit Ihren Eindrücken?Wenn man die Diskussion in den sozialen Netzwerken verfolgt, trügt dieser Eindruck sicherlich nicht. Das Thema polarisiert unglaublich, und ich würde mir einen stärkeren Faktenbezug wünschen. Man sollte sich bewusst machen, dass Seenotrettung von den rechten Parteien instrumentalisiert wird. Mit der Angst, die sie mithilfe dieser Strategie schüren, gelingt es, Wählerstimmen zu gewinnen. Das hat schon beim 11. September funktioniert, und mit der Migration in Europa ist es genauso. Dieses Jahr sind nur etwa 4000 Menschen nach Italien gekommen, trotzdem nützt das Thema Politikern wie dem italienischen Innenminister Matteo Salvini extrem.
Sie sind in den vergangenen Wochen zu einer Art Leitfigur der Seenotrettung geworden. Was halten Sie davon, dass die ganze Debatte nun sehr stark an Ihrer Person geführt wird?Ich hätte das nicht gebraucht, aber so funktionieren Medien und das menschliche Gehirn nun mal. Politik und Gesellschaft brauchen Vor- und Feindbilder, an denen sie sich aufhängen können. Vor ein paar Monaten war ich noch dabei, Setzlinge in Schottland zu pflanzen und mich für den Naturschutz zu engagieren. Ich bin zwei Jahre lang keine Mission gefahren und nur für einen Kollegen eingesprungen. Doch jetzt ist es so gekommen, und ich muss diese Aufmerksamkeit als Chance begreifen, mich für Menschenrechte einsetzen zu können. Das ist mir sehr wichtig.
Brauchte es diese Konfrontation, damit die Diskussion wieder in Gang kommt? Gehen Ihnen die aktuellen Verhandlungen weit genug?Mir fehlt ein zukunftsweisendes Konzept. Wir schauen jetzt wieder mal auf eine Notlösung, die hoffentlich vorsieht, dass die geretteten Geflüchteten zumindest auf einige Länder umverteilt werden. Trotzdem mangelt es an längerfristigen Strategien. Migration lässt sich nicht verhindern. Indem wir Wege erschweren, Zäune bauen und fragwürdige Rückführungsabkommen schließen, machen wir die Fluchtrouten noch gefährlicher, was wir an der gestiegenen Todesrate sehen. Am besten wäre es natürlich, wenn sichere Fluchtwege nach Europa geschaffen werden und die Menschen Asyl beantragen können.
Sie fordern unter anderem, dass Europa alle Menschen aus den libyschen Gefangenen-lagern aufnehmen sollte und auch Klimaflüchtlinge in Zukunft denkbar sind. Halten Sie Ihre Forderung für realistisch?Bei den Menschen in den libyschen Gefangenenlagern direkt an der Frontlinie handelt es sich um wenige Tausend, die evakuiert werden müssen. In ganz Libyen befinden sich Schät- zungen zufolge etwas mehr als eine halbe Million Flüchtlinge. Die sollte Europa verkraften können. Wir haben in Afrika eine historische Verantwortung und sind nicht unschuldig daran, dass Menschen ihr Zuhause verlieren. Klimaflucht ist sehr komplex, und wahrscheinlich würde sich niemand als Klimaflüchtling bezeichnen, aber wir wissen, dass dieses Thema Konflikte schürt und Industrienationen die Umwelt- und Klimazerstörung vorantreiben.
Haben Sie denn ein gewisses Verständnis dafür, dass sich die Lage in Italien derart zugespitzt hat?Es gibt eine große Übereinstimmung darüber, dass die Dublin-III-Verordnung ungerecht ist, gerade für Länder wie Italien, Spanien und Griechenland. Es gelangen aktuell mehr Menschen durch dieses Abkommen zurück nach Italien, als neue Menschen in den Häfen ankommen. Aber die Staaten, die von dem Abkommen profitieren, haben kein Interesse daran, die Situation zu ändern. Die Gesetzesverschärfungen bezüglich der italienischen Häfen halte ich dennoch für Populismus.
Müssten Sie sich nicht trotzdem mehr mit Ihren Kritikern auseinandersetzen?Es kommt darauf an, wie Leute ihre Kritik äußern. Ich trete gerne mit Menschen in Diskurs und erkläre die Fakten. Es gibt aber auch jene, die gar nicht wirklich an dem Thema interessiert sind und ihre vorgefertigte Meinung haben. Da lohnt sich die Auseinandersetzung nicht. Wenn Menschen sich mit der veränderten Situation in ihrem Land nicht wohlfühlen, muss man versuchen, sie zu verstehen und schauen, ob man durch Aufklärung etwas daran ändern kann. Aber: Wir leben eben in einer globalisierten Welt und sind extreme Nutznießer davon. Unser Müll wird überall hin exportiert, unsere T-Shirts kommen aus Bangladesch, unsere Ressourcen werden in anderen Ländern abgebaut. Wenn wir diese ganzen Vorteile nutzen wollen, dann müssen wir damit leben, dass andere das auch möchten.
Woher ziehen Sie Ihre Motivation? Ist das reiner Idealismus?Ich ziehe die Kraft aus der Notwendigkeit, Menschenleben zu retten. Das ist eine große moralische Frage, und ich muss mich damit auseinandersetzen, wofür ich als junge Europäerin stehen will.
Fällt Ihnen dieser Kampf nie schwer, schließlich halten Sie aufgrund der vielen Anfeindungen ihre Aufenthaltsorte teils geheim?Wenn ich sehe, was die Geretteten von ihren Fluchterfahrungen erzählen, habe ich eigentlich kein Recht, mich zu beschweren. Wer an solchen Orten lebt, kann dem nicht einfach entkommen. Ich dagegen kann Social-Media ausschalten, wenn es mir zu viel wird.
In Italien droht Ihnen eine Anklage. Was wissen Sie über den Stand der Ermittlungen?Seitdem die Richterin die Verhaftung Anfang Juli nicht bestätigt hat, bin ich frei. Ob tatsächlich Anklage erhoben wird, weiß ich noch nicht. Momentan laufen zwei Untersuchungsverfahren: eines zur Beihilfe der illegalen Einwanderung, da sind wir relativ sicher, dass es eingestellt wird. Das andere ist das unerlaubte Befahren des Hafens. Da könnte es sein, dass es ein Verfahren geben wird. Die Ermittlungen dauern aber nach Einschätzungen der Anwälte ziemlich lange.
Wenn Sie gewusst hätten, was auf Sie zukommt: Hätten Sie im Nachgang wieder so gehandelt?Wir haben 14 Tage lang mit den Geflüchteten an Bord gewartet und haben mit den unterschiedlichsten Leuten verhandelt. Nur tun wollte keiner etwas. Insofern würde ich immer wieder so entscheiden.
Wie war die Unterstützung der Bundesregierung während des Einsatzes?Die gab es de facto nicht. Mehrere Städte hatten sich dazu bereit erklärt, Menschen aufzunehmen. Was gefehlt hat, war die Zustimmung des deutschen Innenministers. Der wollte, dass die Menschen in Italien registriert werden, was ein technischer Kniff war, um sie später wieder dorthin abschieben zu können.
Momentan sind viele Schiffe festgesetzt. Haben Sie die Befürchtung, dass es immer so weiter geht, bis sich die Hilfsorganisationen keine neuen Schiffe mehr leisten können?Wir gehen davon aus, dass die „Sea-Watch-3" bald wieder freigegeben wird. Ich habe den Eindruck, dass die italienische Justiz ihre Entscheidungen glücklicherweise unabhängig von der Politik trifft. Und ein Großteil der Zivilbevölkerung unterstützt die Einsätze nach wie vor mit Spenden. Nichtsdestotrotz werden die Umstände im Mittelmeer immer schwieriger. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex setzt zudem nur noch Drohnen anstatt Schiffe ein und gibt die Informationen an die libysche Küstenwache weiter, die dann Menschenrechtsverletzungen durchführt, indem sie die Geflüchteten wieder in die Gefängnislager nach Libyen zurückbringt.
Werden Sie ins Mittelmeer zurückkehren?Ich war in der gesamten Crewplanung für dieses Jahr nicht vorgesehen und bin nur eingesprungen. Von daher wird es zumindest in diesem Jahr keinen weiteren Einsatz geben.
Die Fragen stellte Kristin Hermann. Zur PersonCarola Rackete (31) arbeitet als Kapitänin. Bevor sie zu Sea-Watch ging, war sie unter anderem auf einem Forschungsschiff von Greenpeace unterwegs und für das Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut im Einsatz.
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