Zum 9. Mai inszeniert das russische Ivangorod eine Propagandashow für die gegenüberliegende estnische Grenzstadt Narva – und die antwortet.
(Nicht identisch mit der Version bei taz.de, weil bei Veröffentlichung noch Informationen fehlten)
Wenn eine Windböe ungünstig von Ost nach West weht und „Katjuscha" und andere Sowjet-Schlager vom russischen Ufer rüberschallern, versteht man sein eigenes Wort kaum. „Dieses Jahr haben sie wirklich ein Budget!“ sagt David, ein Journalist der größten estnischen Zeitung Postimees. Zusammen mit seinem Kollegen berichtet er jedes Jahr über die 9. Mai-Feiern der russischstämmigen Esten, die besonders seit dem Angriff auf die Ukraine von vielen Esten misstrauisch beobachtet werden.
Und dieses Misstrauen richtet sich vor allem auf Narva. Narva ist so ein Ort, an dem sich das Zeitgeschehen verdichtet. Mit 90 Prozent hat die 56.000-Einwohner-Stadt den größten Anteil an russischsprachigen Menschen in der EU und ist nur von der namensgebenden Narva von ihrer russischen Zwillingsstadt Ivangorod getrennt. Zwei gewaltige mittelalterliche Festungen auf beiden Seiten, verbunden durch eine Niemandsland-Brücke, vervollständigen das Bild der ultimativen Grenzstadt.
Auf dem jenseitigen Ufer wurden dieses Jahr zum Tag des Sieges zum ersten Mal eine große Bühne und eine Leinwand aufgebaut, beide unmissverständlich nach Estland gerichtet. Der Subtext: Das hier geht an unsere unterdrückten Landsleute in Europa. Die Stadtverwaltung Narva hat im Gegenzug an der Festungsmauer auf estnischer Seite ein großes Plakat aufgehängt, das den blutverschmierten russischen Präsidenten zeigt: „Putin, War Criminal“ steht da. Und dieser Kontrast lässt den Kitsch auf der anderen Seite noch kitschiger wirken. Auf der Leinwand laufen jetzt alte Propagandafilme, auf der Bühne scheinen gelegentlich ein paar Leute eine kuriose Tanzchoreografie zu üben, wohl für ein Live-Programm am Nachmittag, so richtig weiß das niemand. Am Vormittag, sagt ein anderer Journalisten-Kollege, hätten sich auf Anfrage von russischer Seite die Grenzsoldaten beider Länder in der Mitte der Brücke getroffen. Die Russen hätten gefordert, dass man das Anti-Putin-Plakat sofort abnehmen solle, die Esten hätten sich natürlich geweigert und man sei wieder auseinandergegangen. Alles zum immer wieder unerträglichen Lärm von Filmdialogen und Musik, die sich immer wieder überlagern.
Andrej, 35, sonnengebräuntes Grinsen hinter der schnellen Sonnenbrille, findet das alles aber ganz toll, es fühle sich an wie sein Geburtstag. Später am Abend wird er sich zusammen mit seiner Mutter die „große Show“ ansehen, Musik soll es da geben und vielleicht werden auch Reden gehalten. Er ist in Sankt Petersburg geboren, hat jetzt aber die estnische Staatsbürgerschaft. Was ihn nicht davon abhält, zu verkünden: „Das Plakat ist eine Lüge, Putin ist ein guter Mann!“ Jeder hier in Narva denke so.
Das sehen Maria, 15, und Martin, 17, beide russischsprachige Est:innen anders: „Diese komische Show interessiert hier keinen. Mich auf jeden Fall nicht,“ sagt Maria. Viel mehr als die paar hundert, vor allem älteren Menschen würden auch später nicht kommen, wenn die Liveshow beginnt. Vladislav, 27, ist sich sicher: „Die paar wenigen hier, die heute ihrer Sowjet-Nostalgie frönen oder vielleicht sogar Putin unterstützen, würden niemals zu Russland gehören wollen. Sie wissen genau, welche Vorteile es hat, in der EU zu leben.“ Alle drei, sagen sie, sehen sich eindeutig als Est:innen.
Mittlerweile fängt auf der anderen Seite eine durchaus aufwendige Show mit Statisten in alten Sowjet-Uniformen und Trachten an, hier und da wird am diesseitigen Ufer Wodka ausgepackt. Ein paar klatschen und grölen zur russischen Seite hinüber, als sie über Lautsprecher offiziell begrüßt werden und ihnen ein fröhlicher Tag des Sieges gewünscht wird. Es ist hier jetzt doch ziemlich voll geworden, während am russischen Ufer deutlich weniger Zuschauer zu sein scheinen. Auf estnischer Seite patrouilliert immer mehr schwer ausgerüsteter Polizei.
Symbole und Äußerungen, die eine Unterstützung Putins und seines Angriffskriegs darstellen, sind verboten worden. Ein paar wenige junge Menschen, die sich, wie Eva, 23, mit Ukraine-Fahnen an die Uferpromenade gewagt haben, werden immer wieder angepöbelt. „Es ist absurd, was hier passiert! Gerade eben hat einer der Sänger aufgefordert, den Gefallenen russischen Soldaten in der Ukraine zu gedenken, ein anderer hat was von „Putin, mein Präsident“ geredet,“ sagt sie. Dann: „Russland ist das beste Land der Welt!“ Jedes Mal haben nicht wenige der mittlerweile grob geschätzten 2000 gejubelt. „Die Hirne der Leute hier sind seit Jahren von der Fernsehpropaganda aus Russland weichgekocht worden.“ Zwar ist seit gut einem Jahr russisches Fernsehen in Estland verboten, aber viele umgehen das mit Satellitenschüsseln.
Aber unabhängig davon, ob diese Jubler heute am Ufer der Narva gemessen an der gesamten russischsprachigen Bevölkerung nur wenige sein mögen — das Kalkül der russischen Propaganda ist sicher zum Teil aufgegangen, wenn das Ziel war, Uneinigkeit, Vorurteile und Misstrauen in Estland zu vermehren. Als das Licht abendlicher wird und die ersten Familien das Ufer verlassen, seufzt David, der Journalisten-Kollege: „Was mich heute besonders gewundert hat, war, wie ernst und angespannt alle waren.“ Vor dem Ukraine-Krieg sei der 9. Mai immer ein Freudenfest gewesen.
Rétablir l'original