Von Klaus Ehringfeld und Marc Pitzke, Mexiko-Stadt und New York
Zehntausende zentralamerikanische Kinder und Jugendliche suchen ihr Heil in den USA. Ohne Begleitung fliehen sie vor Gewalt, Armut - und weil sie einem Irrtum aufsitzen. Präsident Obama reagiert alarmiert.Silvia und Gilberto haben sich vermutlich nie getroffen. Aber vielleicht sind sie mal auf dem gleichen Zug mitgefahren, haben den gleichen Schlepper bezahlt oder sind von dem gleichen korrupten mexikanischen Polizisten ausgenommen worden.
Silvia, 16, aus El Salvador, floh vor Bandengewalt und Todesdrohungen. Gilberto, 15, aus Guatemala, wurde von seinen Eltern auf die Reise nach Norden geschickt. Er sollte Geld verdienen, damit die Familie daheim die Medikamente der kranken Mutter bezahlen kann. Ihre Geschichten sind so unterschiedlich wie ihre Heimatländer. Aber beide Kinder suchten eine Zukunft in den USA. Dafür haben sie sich in Lebensgefahr begeben.
Silvia ist an ihrem Ziel angekommen. Gilberto ist auf dem Weg durch die Wüste verdurstet.
Rund 60.000 Minderjährige in sechs Monaten
Die beiden Minderjährigen stehen für ein Drama, das sich seit einigen Monaten zehntausendfach wiederholt: Kinder aus Honduras, Guatemala und El Salvador kämpfen sich allein 2000, manchmal 3000 Kilometer durch Zentralamerika und Mexiko. Die jüngsten sind kaum acht Jahre alt, manche schon 17.
Zu Fuß, per Bus und als blinde Passagiere auf dem Güterzug sind sie Wochen, manchmal Monate unterwegs, voller Angst vor der "Migra", der mexikanischen Ausländerpolizei, und den Häschern des organisierten Verbrechens und davor, vom Güterzug zu fallen, den sie angstvoll "die Bestie" nennen.
Die Kinder fliehen vor Horror und Hoffnungslosigkeit in ihrer Heimat. In den USA wollen sie sich ihre Träume erfüllen, ihre Verwandten finden oder einfach nur Geld verdienen.
Seit vergangenen Oktober kamen fast 60.000 unbegleitete Kinder und Jugendliche aus Zentralamerika über die US-mexikanische Grenze, mehr als doppelt so viele wie im US-Haushaltsjahr 2013 (24.668). Bis zum Herbst - das Haushaltsjahr 2014 endet im September - könnte sich diese Zahl sogar auf 90.000 erhöhen. In den USA hat das ein enormes Echo ausgelöst, in der Politik wie in den Medien, und die seit Langem schwelende Einwanderungskontroverse zur humanitären Debatte zugespitzt - und zugleich zu einer bitteren Diskussion über Grenzsicherheit.
Trügerisches Gerücht
Präsident Barack Obama spricht von einer "dringlichen humanitären Situation" und hat alle staatlichen Stellen mobilisiert. Das Katastrophenschutzamt Fema versorgt die Kinder mit Medikamenten und Lebensmitteln. Für Freitag hat der Präsident die Staatschefs von El Salvador, Guatemala und Honduras, Salvador Sánchez Cerén, Otto Pérez Molina und José Hernández ins Weiße Haus bestellt. Bei dem Treffen will er seinen Kollegen einschärfen, dass sie den Exodus in ihren Ländern stoppen sollen.
Wenn die minderjährigen Migranten nicht vom US-Grenzschutz aufgegriffen werden, begeben sie sich oft freiwillig in die Obhut der Polizei. Denn in ihren Heimatländern kursiert das Gerücht, dass sie als Minderjährige vor Abschiebung sicher seien. Aber ihnen wird lediglich eine begrenzte Aufenthaltserlaubnis zugestanden, solange ein Gericht über das Bleiberecht entscheidet.
Die Krise um die minderjährigen Flüchtlinge kommt nicht unerwartet. Die Behörden in den Grenzstaaten wiesen das Weiße Haus schon vor fast einem Jahr auf den wachsenden Ansturm unbegleiteter Kinder hin. Unternommen hat Washington damals nichts.
"Die Katastrophe spielt sich in den Herkunftsstaaten ab"
Der texanische Gouverneur Rick Perry wollte jetzt nicht länger warten und sandte Anfang der Woche tausend zusätzliche Nationalgardisten an die Grenze, um diese noch weiter abzudichten. "Wenn die Zentralregierung ihre Verfassungspflicht, die Südgrenze der Vereinigten Staaten zu sichern, nicht erfüllt, wird es der Staat Texas tun."
Auf Migrationsfolgen spezialisierte Hilfsorganisationen wie die deutsche "Medico International" halten diese Demonstrationen der Stärke für falsch und fordern von den USA, die Kinder als Flüchtlinge anzuerkennen: "Die humanitäre Katastrophe spielt sich nicht an der US-Grenze, sondern in den Herkunftsstaaten ab", sagt Dieter Müller, Mittelamerika-Referent von Medico. "Solange dort Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit vorherrschen, wird auch die Nationalgarde die Kinder und Jugendlichen nicht aufhalten."
So war auch für Silvia der schwere Weg in den Norden eine Frage von Leben oder Tod: Die 16-Jährige aus einem Vorort von San Salvador packte die Panik, als sich ihr der lokale Chef der Jugendbande Salvatrucha näherte. Silvia wusste, was das bedeutet: Den Mädchen, die mit den Bandenchefs mitgehen, steht oft monatelange sexuelle Gewalt bevor. Wer sich weigert, wird getötet.
Die "Maras" genannten Jugendbanden Salvatrucha und die Konkurrenz von der "18" dominieren weite Teile El Salvadors und Honduras'. Beide Staaten gehören zu den gefährlichsten der Welt mit mehr als 90 Morden pro 100.000 Einwohner.
Keine Perspektive in der Heimat
Der Onkel, bei dem Silvia wohnte, seit ihre Mutter vor zehn Jahren in die USA gegangen war, nahm sie aus der Schule, schnürte ihr den Rucksack, wünschte Gottes Segen und schickte sie auf den Weg zur Mama. Ob sie die jemals sieht, ist noch unklar. Aber zumindest in den USA ist sie nach wochenlangem Horrortrip gestrandet. Zitternd und unter Tränen vertraute sie sich dieser Tage in Nogales im US-Bundesstaat Arizona den Grenzpatrouillen an. Zwölf Tage hatte sie der Schlepper zuvor auf der mexikanischen Seite der Grenze in einem Container warten lassen, zusammen mit 40 Männern. Mehrfach wurde Silvia in dieser Zeit vergewaltigt.
Neben der Gewalt treibt die Kinder und Jugendlichen auch der Mangel an Perspektive in die Flucht. In Zentralamerika wird es für junge Menschen immer schwerer, einen Job zu finden, von dem sie leben können. Die Lohnveredelungsbetriebe, in denen für die USA Fernseher gelötet und Jeans genäht werden, zahlen Ausbeuterlöhne. Und ein Job als Parkhauswächter oder DVD-Verkäufer bringt vielleicht 150 Euro im Monat. Sehr viel mehr kann man mit ehrlicher Arbeit kaum verdienen.
Auch Gilberto aus dem kleinen Ort San José Las Flores im armen Hochland Guatemalas wusste das. Dort baute er mit dem Vater Bohnen und Mais an. Die Ernte war gerade genug für die Familie. Also schickte Vater Francisco Ramos Sohn Gilberto auf die lange und gefährliche Reise. Es war der 17. Mai und der letzte Tag, an dem er seinen Sohn lebend sah.
Nicht weit von McAllen, Texas, fanden die Grenzschützer seinen ausgedorrten Körper und schickten ihn zurück in die Hauptstadt Guatemala City. Francisco Ramos erkannte seinen Sohn vor allem an dem Gürtel. In der Schnalle war die Telefonnummer des Bruders in Chicago eingeritzt.
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