Eines Tages auf dem Weg zu einem staatlichen Buchladen (die sozialistische chinesische Vergangenheit hinter der Fassade blieb frisch) hier in Hangchou (oder offiziell Hangzhou, oder noch Ang Dsei im Lokaldialekt), sagte ich zu Mathilde: ,,Ich schreibe über den Staub.” Obwohl sie gewohnt war, dass ich Themen ohne Vorwarnung gerne schnell wechselte – meine typisch kantonesische Art, Französisch zu sprechen – verstand sie nicht genau, was ich meinte. Den ganzen Nachmittag lang dachte ich über einen Wegnach, mich verständlich zu machen.
,,Ich schreibe über den Staub.”
Ich leugne nicht, dass ich eine eher faule Person bin, aber ich habe zunehmend mehr Freude am Aufräumen und Putzen meiner Wohnung. Teilweise inspiriert von Shoukei Matsumotos “A Monk’s Guide to a Clean House and Mind”, welches ich zufällig im Museum Ludwig in Köln durchblätterte, nehme ich das Putzen des Zuhauses immer mehr als Teil des Lebenskreislaufes des stets wiederkehrenden Staubs wahr. Bis jetzt hatte ich in Macau, in Berlin oder hier in Hangchou immer das Glück, in einer Wohnung mit großen Fenstern zu leben, die immer zum gleichen Ergebnis führen: viel Staub. Und beim Saubermachen kam ich nie umhin, auf Kantonesisch das Gleiche zu flüstern:
“塵世,塵世呀!”
,,Tsan sai, tsan sai ah!”
,,Staubleben, Staubleben Ausdruckspartikel!”
,,Was für eine Staubwelt!”
Ich bin der Erste, der meine eigene Übersetzung kritisiert. “Staubwelt” ist mir hier eigentlich keine allzu zufriedenstellende Übertragung. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass “Welt” ursprünglich ein abendländischer Begriff ist. Ziel ist hier nicht, eine Ansprache darüber zu halten, was das Wort “Welt” heute darstellt. Zudem würde ich dies nicht vermögen, da ich immer nur einige kleine Informationen zur Referenz hier und dort darüber lese. Es war nochmals zufällig, dass sich eine chinesische Übersetzung von Thomé H. Fangs (1899-1977) “The Chinese View of Life” (wieder)fand, in einer neuen Ausgabe des Tschekiang (Zhejiang) Volksverlags. Ein weiteres sehr interessantes Buch, um die chinesische Weltanschauung zu verstehen.
Kommen wir zurück zu diesem Wort, die ,,Welt”! Ein Wort, dessen Wortherkunft mir so fraglich scheint, genauso wie es schwierig ist, den Ursprung von was auch immer zu finden. Mein Denken ist durch den Einfluss Mathildes stark enthierarchisiert. Mathilde erzählt mir oft, wie einer ihrer ehemaligen Lehrer (“Lehrenden” wäre genderneutral) sagte, dass die Etymologie eine ,,Polizei der Wörter” sei, die über deren “ursprüngliche” Bedeutungen entscheide. Aber diese diffizilen Dinge wecken sehr oft großes Interesse in mir. Für diejenigen, die an diesem Thema interessiert sind, reicht ein kurzer Blick auf die Herkunft des Wortes ,,Welt” in den germanischen, romanischen oder orientalischen Sprachen, um zu sehen, wie verschiedene Denkweisen sich in den unterschiedlichen Sprachen spiegeln und darauf hinweisen, welch eine bedeutende Anzahl vielfältiger Weltanschauungen es gibt, wenngleich wir in einer Zeit leben, in der alles in der Welt zur Vereinheitlichung neigt.
Ehe wir mit unserem Thema, dieser ,,Staubwelt”, beginnen, betrachten wir erstmal die Entsprechungen des Wortes und des Begriffs ,,Welt” im Chinesischen. Diejenigen, die eine ostasiatische Sprache lernen, entdecken wahrscheinlich: Die beiden Begriffe der Zeit und des Raums sind nicht auf die gleiche Weise getrennt wie zum Beispiel in der „abendländischen“ Philosophiet. Ich setze hier das Wort „abendländisch“ in Anführungszeichen, weil die Philosophie eigentlich eine abendländische Sache ist. Diese chinesische „Verwechslung“ von Zeit und Raum ist übrigens nicht einzigartig auf der Welt (zumindest war das meine zufällige Beobachtung beim Persisch-Lernen).
Hier sind einige Beispiele der Aussprachevarianten des Wortes „Welt“ in verschiedenen chinesischen Dialekten und, im breiteren Kontext, in mehreren anderen konfuzianistischen Sprachen:
世界
chê kai (in einigen Varianten der Hochsprachen Hakkas)
sai kai (auf Hochkantonesisch)
sè kai (in taiwanesischem Hokkien)
shìjiè (auf Hochmandarin)
sî djiá (im Schanghai-Dialekt, Wu- oder U-Sprache)
sî djiê (im Hangchou-Dialekt, Wu-Sprache)
(Umschrift nach Portugiesisch wie im Originaltext.)
segye (auf Koreanisch)
sekai (auf Japanisch)
thế giới (auf Vietnamesisch)
Wie man feststellen kann, ist das chinesische Wort „世界“ aus zwei Schriftzeichen zusammengesetzt, nämlich „世“ und „界“. In diesem Artikel konzentrieren wir uns auf das erste Schriftzeichen. Dieses „世“ existiert nicht in der Orakelschrift, der frühesten bekannten Schrift Chinas, sondern stammt von dem älteren Schriftzeichen „枼“ ab, das aus dem gerade genannten „世“ oben und „木“ (“Baum”) unten zusammengefasst ist. „Langzeichenlernende“ könnten es erkennen: Dieses Schriftzeichen „枼“ ist mit dem Wort „Blatt“, also „葉“, verwandt, in dem das „枼„ mit dem „Pflanzen“ bedeutenden Radikal „艹“ ergänzt wird. Sein „Kurzzeichen“-Gegenstück wird mit einem alten „叶“ geschrieben, das ursprünglich nichts direkt mit dem „Langzeichen“ zu tun hat. Der Grund für seine „Verkürzung“ liegt an mehreren Ausdrucksweisen der Wu-Sprache (in der Tschekiang-Provinz), in der „葉“ und „叶“ gleichlautende Wörter sind. In den Schriftzeichen „枼“ stellen „世“ und „木“ . mehrere Zweige und den unteren Teil eines Baums mit Wurzeln dar. Das Schriftzeichen „枼“ wurde am Ende der Shang-Dynastie entwickelt, welche Mitte des 11. Jahrhunderts v. Chr. endete.
Es scheint offensichtlich, dass in der Frühgeschichte Chinas „枼“ ein
Gleichnis der Generationen war, die, wie die Zweige, aus der gleichen
Wurzel stammen. Später, um genau zu sein, in der frühen Zhou-Dynastie,
welche auf die Shang Dynastie folgte, existierte das Wort „世“ schon als
eigenes Schriftzeichen und verkörperte eine Pflanze, die ein
Menschenleben verkörperte. Nach einem chinesischen Wörterbuch, das im
ersten oder zweiten Jahrhundert unserer Zeit erstellt wurde, dauerte das
Menschenleben 30 Jahre. Was für ein kurzes Leben!
Selbstverständlich hat das Schriftzeichen „世“ eine Vielzahl anderer Bedeutungen: als Hauptwort bedeutet es sowohl „Jahr“ als auch „Leben“, „Generation“, „Epoche“, „Dynastie“, „Nachkommen“, usw. Das Sanskrit-Wort लोक (loká) wurde ins Chinesische mit genau dem Schriftzeichen „世“ übersetzt. Die chinesische Sprache bereicherte sich mit diesem buddhistischen Begriff, der langsam in die klassische chinesische Kultur einbezogen wurde. Im Rahmen des Buddhismus, und nach dem Wörterbuch des mandschurischen Kaisers Elhe Taifin (1654-1722), stellte „世“ das gesamte Leben zwischen Himmel und Erde dar. Dieses Wort ist ein Begriff so großer Komplexität, dass ich nicht fähig bin, alle Nuancen gut zu erklären. Was ich sagen kann, ist, dass man dieses Wort aus dem Sanskrit in vielen asiatischen Sprachen, wie z.B. Burmesisch, Thai und natürlich in mehreren indischen Sprachen benutzt, um das westliche Konzept „Welt“ zu benennen.
Gehen wir nun noch einmal zurück zum Schriftzeichen „塵“ und zum Staub, der Gegenstand des Artikels zu Anfang war. „塵“ fasst die beiden Bestandteile „鹿“ (Hirsch) oben und „土“ (Erde) unten zusammen. Im Vergleich zu dem oben erwähnten Schriftzeichen erschien „塵“ viel später in der Geschichte der chinesischen Schrift. In einer Abschrift des Tao Te King des zweiten Jahrhunderts ist dieses Schriftzeichen in einer anderen Form zu sehen: drei Hirschköpfe oben und „Erde“ unten. Dieses Schriftzeichen besitzt in Computer-Schriftzeichensätzen/als Computerschrift noch eine andere Form : „𪋻“, diesmal drei „ganze“ Hirsche oben und eine „Erde“ unten. Es ist außerdem in dem oben genannten kaiserlichen Wörterbuch verzeichnet. Einer oder mehrere Hirsche laufen auf der Erde und wirbeln dabei Staub auf.
Das „verkürzte“ Schriftzeichen ist tatsächlich eine der existierenden
alten Varianten: „尘“, mit dem Bestandteil „小“ (klein) und nochmals
„Erde“ unten. Unter ihren zahlreichen Bedeutungen finden wir z. B.
„lange Zeit“, „Schmutz“ oder „Spur“. Natürlich kann man diese
„Verkürzung“ beweisen, weil sie den Staub als etwas sehr Kleines oder
sehr Leichtes auf der Erde darstellt. In der chinesischen Kultur ist der
Staub „塵“ trotzdem nicht auf kleine oder leichte Dinge auf dem Boden
beschränkt. Im Taoismus bildet dieser „Staub“ ein leichtes Leben ab.
Aber„ Staub“ kann ebenfalls erhaben wie im Buddhismus sein, wo der
„Staub“ die Weisheit des Universums umfasst. Und somit kann der „Staub“
in der chinesischen Literatursprache auch gleichbedeutend mit „großer
Unterschied“ verwendet werden.
Mein Herz ist wie mein Zuhause, immer verstaubt. Ich versuche es aber zu putzen, auch wenn der Staub immer wiederkommt.
Dieses Wort „Staubwelt“ stammt aus einem ungewöhnlich reichen Kanon
und hat sich diverse buddhistische Konzepte aus dem Sanskrit angeeignet.
Ohne eine religiöse Absicht zu haben, bewundere ich den Buddhismus, als
gebürtiger Macauer mein Verständnis jedoch leider immer noch
eingeschränkt. Mein Herz ist wie mein Zuhause, immer verstaubt. Ich
versuche es aber zu putzen, auch wenn der Staub immer wiederkommt.
https://cheongkinman.com/2021/04/24/die-staubwelt/