Porträt
Nicht nur auf dem Teppich bleiben: Dieter Kosslick ist der der Mann, der die Berlinale von einem steifen Kulturereignis zu einer bunten Show gemacht hat. Ein Porträt von Katja Bauer.
Manchmal hat er Angst. Es ist diese Unruhe, die einen nachts anfällt, so zwischen zwei und fünf, wenn man wach liegt und sich verheddert in irgendwelchen losen Enden. Wieso ruft dieser Lars von Trier nicht zurück? Was, wenn der rote Teppich bei der Eröffnung so leer bleibt wie vor zehn Jahren? Ein Schlachtfest für die Filmkritik! Und warum wollen alle immer nur wissen, ob George Clooney kommt?
"Es ist eigentlich die normale Angst, die man hat, wenn man ins Ungewisse reist", sagt Dieter Kosslick, der Direktor der Berlinale. Er kennt dieses Kribbeln, es erinnert ihn an wilde Zeiten, als er mit dem VW-Bus losfuhr - grobe Richtung Persien - und dann in Basra strandete, Südirak. "Bloß anders als da, weiß ich hier: Ich muss in 365 Tagen fertig sein. Es muss dann klappen. Da hängen 1700 Mitarbeiter dran, zehn Filmreihen, Tausende Akkreditierte. Und die Angst, dass es mal nicht klappen könnte, die ist schon da."
In solchen Nächten macht Kosslick dann das Licht an und liest, dicke, langatmige Bücher, bei denen man wieder einschläft. Heute Abend werden die 64. Internationalen Filmfestspiele eröffnet. Die Zeit der losen Enden ist vorbei. Der Chef scheint ganz gut zu schlafen.
Dieter Kosslick, 65, seit 13 Jahren Direktor des größten Publikumsfestivals der Welt, sitzt an diesem Morgen in seinem Eckbüro im vierten Stock eines Hochhauses am Potsdamer Platz. Brauner Kaschmirpulli, ein Ärmel hochgekrempelt, der andere ausgeleiert, Cordhose, die Beine übergeschlagen, die grauen Haare wie immer unsortiert, freundliches Grinsen.
Er ordert einen Espresso, aber bitte den aus der Maschine vom Ende des Flurs, und hält ein freundliches Exkursreferat über die Berliner Kaffeerösterei Andraschko und deren bessere Bohnen. Jetzt bloß keinen Mucks, sonst hat man wieder keine Antwort auf die eine Frage: Wie macht man das eigentlich, so ein Festivalprogramm erschaffen, damit es dann nachher so aussieht, als sei alles Absicht gewesen? Sonst kann es sein, dass man die verfügbare halbe Stunde über Kaffee redet - die richtigen Bohnen, die Ausbeutung der Kaffeebauern, einen wichtigen Dok-Film dazu oder über die Tasse Kaffee, die er neulich mit Scorsese getrunken hat. Nicht, dass Kosslick ein rettungsloser Kaffeejunkie wäre. Er ist halt nur wahnsinnig interessiert - an allem, und daran, wie alles mit allem zusammenhängt.
Oder ist das schon die Antwort? Braucht ein Festivalmensch die Gabe, die Welt als einen Ort zu sehen, an dem alles mit allem zusammenhängt? "Ich wollte immer gern Forscher werden", sagt Kosslick. "Und im weitesten Sinne hab ich das erreicht - so im Humboldt'schen Sinne, Dinge zu sammeln und Sachen und Menschen miteinander in Verbindung zu bringen. Das ist eigentlich die Arbeit eines Festivals, und ich glaube das kann ich ganz gut."
Als Kosslick im Mai 2001 antrat, da lag über der Berlinale noch diese Bedeutungsglocke. Der neue Chef war einer, der sich im Kino und in der Politik auskannte. Er stammt aus Pforzheim und war mal Redenschreiber des Hamburger Bürgermeisters Hans Ulrich Klose. Erst in den 80ern machte er die Filmförderung zu seinem Beruf und wurde als Chef der Filmstiftung NRW ein wichtiger Macher.
Er hatte noch nie eine Scheu vor der Leichtigkeit
2001 startete Kosslick mit der Berlinale - in einer Stadt, die unterwegs war. Auf dem Weg vom Westberliner Piefke-Goldknopf-Gefühl hin zu einer rot-rot regierten Arm-aber-sexy-Metropole, die auf einmal alle in der Welt toll fanden - mit ihrem rauen Charme des Halbfertigen, ihren gruseligen Geschichtsbrüchen, ihrer wilden und billigen Partywelt. Und Kosslick machte aus dem etwas steifen Kulturereignis Berlinale ein lässiges Event mit Geist und Glamour - und mit wirtschaftlicher Bedeutung. Der European Film Market, eine Messe parallel zum Festival, ist zu einem der drei größten in der Welt geworden. Die Berlinale bringt 125 Millionen Euro, Berlin ist mit 3500 Unternehmen Spitzenstandort der Filmbranche.
Kosslick, der Schwabe mit dem peinlich-witzigen Englisch, hatte noch nie Scheu vor Humor und Leichtigkeit, und er wollte am Marlene-Dietrich-Platz zehn Tage lang die ganz große Show. "Berlinale-Clown" ätzte die taz. Aber statt Staatssekretärsgattinnen in grauen Hosenanzügen gehen heute Diven wie Catherine Deneuve, Uma Thurman und Charlotte Gainsbourg über den Teppich. Die Berlinale hat einen Publikumssonntag, sie hat sich wie eine riesige Ausstellung in die ganze Stadt ausgebreitet mit dem Kiezkino, 300 000 Karten werden für die zehn Tage verkauft. Kosslick hat neue Reihen erfunden, das Kulinarische Kino oder den Talent-Campus für junge Filmemacher.
Im großen Wettbewerb gab es bessere und schlechtere Jahre, Berlin hat einen schweren Stand gegen Cannes und Venedig, wo Avantgarde und internationales Kino hinstreben. Kritik gab es auch immer, sie gehört zum Spiel: zu viel Hollywood oder zu wenig. Zu wenige deutsche Filme, zu kommerziell, zu intellektuell, zu politisch oder zu undefiniert. Je nachdem halt. Er glaube, sagt Kosslick grinsend, dass irgendein armer Psychologiestudent über diese Dauerkritik mal eine Doktorarbeit schreiben werde. Es gab Momente früher, da wirkte er nicht so locker, sondern schwach, geschmerzt, müde. Als habe er genug von diesem Dauerschattenboxen. 2004 etwa, seinem schwärzesten Jahr, als zur Eröffnung alle Big Shots absagten. Und man merkt auch, dass es ihn anfasst, wenn jemand nicht genau hinsieht, nur den Teppich sieht. Die Berlinale, so Kosslicks Credo, muss politisch immer auch relevant sein: "Ich will kein abgehobenes Festival, wir müssen auch einen Nerv treffen, sonst strahlt da nichts, sonst hat es keine Kraft und ist nur roter Teppich."
Es sei ihm nicht wurst, was die Kritiker sagen. "Es ist eine schwierige Sache. Ein Programm zusammenzustellen ist ein weiter Weg. Das dauert nicht ein, das dauert zwei Jahre, da stecken so viele Beziehungen und so viele Verflechtungen drin, da gibt es Freunde und Gegner und es gibt Zufälle. Aber am Ende ist es wie bei einem Stabhochspringer. Man muss den Einstich treffen, sonst fliegt man unter der Stange durch oder man reißt."
Nun fällt der Startschuss. Zehn Tage lang werden dreimal am Tag Galapremieren im Berlinale-Palast gefeiert, dazu die Specials, Retrospektiven, Preisverleihungen, Dinners, Pressekonferenzen. Tausend Möglichkeiten, einen Fehler zu machen. Kosslick nimmt sie auf dem roten Teppich in Empfang - das sieht alles leicht und locker aus, nach alten Freundschaften und unendlich viel Spaß. Aber der Direktor hat Dossiers über jeden Gast: "Ich weiß, wer was nicht gefragt werden will, oder wer Angst vor diesem Moment hat. Ich versuche das dann zu lösen."
2000 Menschen kommen allein zur Eröffnung, auch die Stars aus Wes Andersons Film "The Grand Budapest Hotel". Auf seinem großen Besprechungstisch steht eine edle Hutschachtel, mit einem Maßhut aus feuerrotem Filz. Ein Geschenk. Er wird ihn nicht tragen. Eine Stunde vor der Premiere wird Kosslick aus dem Fenster des Hotels schauen, in dem er jetzt wohnt, den Teppich im Blick. Dann wird er sich anziehen: Mantel, Hut, Schal, wenn es kalt ist, Thermounterwäsche. Er wird in die Limousine steigen. "Ich konzentriere mich auf den Moment, wenn ich die Tür der Limousine öffne und auf den Teppich trete - dann geht es los und es gibt kein Zurück. Manchmal weiß ich nicht, ob ich nicht lachen muss über mich, wie ich diesen Vorgang jetzt zum 13. Mal absolviere. Aber ich weiß, es ist wichtig. Ich bin konzentriert, ich habe meine Montur an, die mich dann verwandelt. Und dann geht es los."
Kosslick sitzt da und lächelt, hinter sich das Festivalplakat mit den Bärenköpfen. Er sieht aus, als freue er sich auf die zehn wilden Tage. Und wenn man ihn so sieht, diesen Mister Berlinale, dann denkt man: Da sitzt praktisch der Bär persönlich. Verschmitzt, locker, irgendwie knuffig.
Nach fünf Minuten Zuhören ist einem schwindlig
Kosslick wäre nicht Kosslick, wenn er darüber nicht nonchalant hinweglachte. Und gleich noch eine Geschichte parat hätte, die irgendwo bei der Bildhauerin des Goldenen Bären beginnt, eine mutwillige Schleife über ein Dinner bei einer kulturbeflissenen Adeligen dreht, zwischenlandet im Kummer eines Stararchitekten über seinen Bauherren und schließlich mitten in der Berlinale aufschlägt. Bei einem Film über ein elfjähriges Asylbewerberkind. Den man nach dieser Geschichte unbedingt sehen will. Nach fünf Minuten Zuhören ist einem schwindlig. Und man hat das Gefühl, da hat einen ein Abenteurer mit auf die Reise genommen - ins Ungewisse.