1 abonnement et 1 abonné(e)
Article

Miniatur Wunderland: "Spieltrieb ist einer der größten Motoren überhaupt"

Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 53/2022.


Vor dem Miniatur Wunderland kreischen Möwen um die Wette mit Kindergartenkindern. Seine Backsteinmauern fallen kaum auf in Hamburgs historischer Speicherstadt. Doch der Andrang verrät: Hier liegt eine von Deutschlands meistbesuchten Touristenattraktionen - die größte Modelleisenbahn-Anlage der Welt. Loks tuckern durch den Grand Canyon und durch brasilianische Favelas, vorbei an skandinavischen Wasserfällen bis in die Fantasiestadt Knuffingen. Vor gut 20 Jahren haben die Zwillingsbrüder Gerrit und Frederik Braun hier sozusagen den Grundstein für ihren Traum gelegt. Seitdem verdienen sie ihr Geld mit dem Lieblingsspiel ihrer Kindheit. Im Besprechungsraum nölt Frederik seinen Bruder gerade durchs Telefon an: "Kannst du jetzt bitte mal kommen?" Die beiden hätten sich gerade gestritten, erzählt er. "Das kommt bei uns häufiger vor und bedeutet nichts." Gerrit spurtet herein und setzt sich mit etwas Abstand zu seinem Bruder an den Konferenztisch, der mit kleinen Figuren und Spielszenen gespickt ist.

ZEIT WISSEN: Herr Braun, Herr Braun, wir haben grade im Miniatur Wunderland ein wenig über die Besucher gestaunt. Die meisten schauen sich still die Landschaften an - es gibt überhaupt kein Gekreische und Gerenne, wie man erwarten würde.

Frederik Braun: Die Leute sind irre konzentriert. Rennen und Lautsein ist bei uns nicht verboten, Kinder sollen Kinder sein dürfen. Aber sie und die Erwachsenen sind fasziniert von der Technik, den Details, den Knöpfen, die sie selbst drücken können -dann blinken plötzlich die Blaulichter auf Polizeiautos, oder im Bereich Schweiz gibt es auf Knopfdruck eine Schokoladentafel. Natürlich ist das Spiel und Unterhaltung. Aber zum Spiel gehört auch dazu, es ernst zu nehmen. Sonst macht es keinen Spaß.

Frederik Braun

Frederik Braun ist fünf Minuten jünger als sein Bruder. Er fiel durchs Abitur und ist heute dankbar dafür: Ideengeber eines Wunderlands wäre er mit geradem Lebensweg wohl nicht geworden. An Samstagen beobachtet er mit seinen Kindern Züge. Sie haben die Leidenschaft ihres Vaters nämlich übernommen - anders als Gerrits Kinder.

ZEIT WISSEN: Dass Ihrem Spieltrieb mit Ernsthaftigkeit begegnet wird, davon hing zu Beginn sogar Ihr ganzes Projekt ab. Sie brauchten einen Kredit - für die Schnapsidee der weltgrößten Modelleisenbahn-Strecke. Wie hat die Bank da reagiert?

Gerrit Braun: Frederik hat das Telefonat eröffnet mit den Worten: "Ich brauche zwei Millionen Mark für meine Modelleisenbahn." Der Berater dachte, dass die für unseren Keller ist, dass wir damit spielen wollen.

Frederik: Und als ich dann gesagt habe, das sei eine Geschäftsidee, gab es ein schallendes Gelächter - hahaha, eine Modelleisenbahn! Aber: Der Herr von der Bank kannte uns, wir hatten acht Jahre lang erfolgreich eine Disco geführt und waren nie im Minus gewesen. Eine gute Grundlage. Er hat uns gesagt, wir sollen mit einem Businessplan vorbeikommen. Wir haben dann auf zwei Seiten zusammengefasst, was wir machen wollen. Worauf er sagte: "Ein bisschen mehr brauche ich schon." Wir haben ihn dann zwei Stunden an die Wand geredet. Er ist mit unserer Idee zum Abteilungsleiter gegangen. Und der hat sie mit Pauken und Trompeten abgelehnt. Und was hat dieser Berater gemacht? Der ist noch eine Instanz höher gegangen. Und dort wurde uns der Kredit bewilligt. Hätte er nicht diese - Entschuldigung - Eier in der Hose gehabt, würde es das Miniatur Wunderland wahrscheinlich nicht geben.

Gerrit Braun

Gerrit Braun investierte sein mathematisches Talent nach dem Abitur in ein Studium der Wirtschaftsinformatik und die Organisation der Disco Voilà. Er spielt kein Lotto, sein Leben sieht er bereits als Hauptgewinn. Den teilen er und sein Bruder gerne: Während der Pandemie zahlten sie ihrem Team eine halbe Million Euro aus - als Dankeschön für das Durchhalten in der Krise.

ZEIT WISSEN: Was hat der Berater in Ihrer Idee gesehen?

Gerrit: Er hat geahnt, dass Spieltrieb einer der größten Motoren ist, die es gibt. Direkt nach dem Überlebenswillen. Diesen Spieltrieb hat er nicht nur in uns gesehen, sondern auch in potenziellen Besuchern. Und in sich selbst. Spieltrieb ist gerade bei uns beiden der Hauptmotor.

ZEIT WISSEN: Was treibt der an?

Frederik: Den Mut, Dinge zu probieren, die auch schiefgehen könnten. Die Disco zum Beispiel, die wir betrieben: Die hätte - wie auch das Miniatur Wunderland - krachend scheitern können. Aber wir haben dran geglaubt und es als spannende Herausforderung gesehen. Und als wir keine Lust mehr auf die Disco hatten, hat uns der Spieltrieb die neue Idee mit der größten Modelleisenbahn-Anlage der Welt beschert.

Newsletter

Willkommen im Wochenende

Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende - lesen Sie hier die aktuelle Ausgabe und abonnieren Sie unseren Letter.

Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis.

Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt.

Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement.

ZEIT WISSEN: Sie haben inzwischen 16.138 Meter Gleise auf 1545 Quadratmetern verlegt, das war bestimmt eine riesige Anstrengung. Wie wichtig ist für Sie dabei der jeweils andere? Sie sind eineiige Zwillinge - und wirken im Auftreten doch sehr verschieden.

Frederik: Ich bin eher der Verrückte. Gerrit ist der rational Denkende. Früher haben wir gesagt: Gerrit ist der Verkehrsminister, und ich bin der Außenminister vom Wunderland. Ich komme oft auf dumme Ideen und beiße mich an ihnen fest wie ein Terrier. Gerrit ist derjenige, der sehr schnell mitspielt und das meiste umsetzen muss, weil ich zwei linke Hände habe. Ich brauche ihn. Ich kann keine Idee verwirklichen, ohne dass mein Bruder sie gut findet. Uns eint: Wir sind beide kleine Weltverbesserer und wissen nicht, wie weit wir damit kommen. Aber wir wollen nichts unversucht lassen.

Wenn man von oben draufguckt, kann man seiner Fantasie freien Lauf lassen. Dann fallen einem oft bessere Lösungen für die Probleme der Welt ein. Man ist nicht mehr so festgefahren.

ZEIT WISSEN: Sie zeigen in Ihrem Wunderland auch Probleme: Armut, Müll, Protestplakate gegen Kriege. Warum tun Sie das?

Gerrit: Wir haben uns die Frage gestellt: Warum kommen die Leute ins Wunderland? Ist es die Alltagsflucht? Oder weil die großen Probleme hier so klein wirken? Wir möchten bei uns die Welt nachbauen, wie sie wirklich ist - und wenn wir sie realistisch darstellen wollen, müssen wir auch das Schlechte zeigen. Doch jetzt kommt der große Vorteil: Wenn man von oben draufguckt, kann man seiner Fantasie plötzlich freien Lauf lassen. Und wenn du ein Problem spielerisch aus allen Perspektiven betrachtest, fallen dir oft bessere Lösungen ein. Du bist nicht mehr so festgefahren.

ZEIT WISSEN: Sie spielen Gott.

Gerrit: Ja. Wir treffen Schicksalsentscheidungen für Figuren, formen Berge und entscheiden: Soll da jetzt ein Atomkraftwerk oder ein Kohlekraftwerk hin? Da kommt unser Wunschdenken natürlich oft durch. Wir merken dann: Wir möchten viele Dinge nicht nachbauen, wie sie draußen sind. Das hat uns politischer gemacht.

Rétablir l'original