Als Alina Schönl (17) sich am Eingang des Olympiastadions anstellt, sind es noch 27 Stunden bis sie ihn endlich sehen wird. In ihrem Jutebeutel hat sie eine Billig-Isomatte verstaut für die Nacht, für das Konzert eine Deutschland- und eine Regenbogenfahne. Für ihr Idol: Ed Sheeran. Ein blaues, vorne geknotetes T-Shirt in Batik-Optik trägt sie schon für morgen. Vorne drauf ein „÷"-Zeichen, im Querstrich steht Ed Sheeran - das Logo seiner neuesten Platte.
Absperrgitter, links und rechts vom Eingang. Es ist 17:00 Uhr, jetzt ist noch genug Platz, um die Isomatte auszurollen. Ungefähr 20 Teenager sind da, sie haben es sich zwischen Sonnenschirmen und Beuteltaschen auf Campingstühlen oder Decken gemütlich gemacht. Die Sonne knallt. Einer ist in seiner Funktion als großer Bruder da: Er begleitet seine 13-jährige Schwester, weil sie alleine nicht reinkommen würde. „Lächle, du kannst sie nicht alle töten", steht auf seinem T-Shirt. Im Hintergrund läuft aus einer Musikbox Sheerans Hit „Galway Girl" vom neuen Album. „Sheerios" nennen sich die meisten hier sie sind die Ultras unter den Ed Sheeran-Fans.
Alina ist eine von ihnen, von allen Ali genannt. Am liebsten „Äli" ausgesprochen. Ihre Locken haben die gleiche orangerote Haarfarbe wie die von Ed Sheeran. Früher, in der Schule, wurde sie wegen der Farbe aufgezogen, deswegen mochte Ali sie nicht. Dann hat sie Sheeran „kennengelernt", wie sie es nennt. Sie meint seine Musik. Jetzt mag sie ihre orangeroten Haare. An ihm liebt sie nicht nur die Haare, sondern seine ganze Art: dass er sich, wie sie sagt, von ganz unten hochgearbeitet hat, dass er für seine Fans da ist und dass sie sich durch seine Songs verstanden fühlt. Wegen ihm hat sie angefangen Gitarre zu spielen.
Spaziergänger im Olympiapark schauen immer wieder neugierig rüber, das Lager der Fans fällt auf. Ali und die anderen stört das nicht. Anna Wolf ist seit 3:00 Uhr nachts da, sie war die Erste. Jetzt managt sie die ankommenden Fans. Sie hat eine inoffizielle Liste angefangen, um die Reihenfolge beim Anstehen festzulegen. So ist das üblich. Jeder, der nach vorne will, muss sich eintragen; versichern, dass er wirklich übernachtet und sich nicht nur meldet, um erst kurz vor Einlass seinen Platz einzufordern. Mit lila Edding schreibt Anna die Wartenummern auf die Handrücken. Schwarzer Edding wäre zu leicht zu fälschen.
Das erste Gekreische löst nicht Ed Sheeran aus, sondern ein Ameisenhaufen, in den sich Anna aus Versehen hineinsetzt. Quietschendes Gelächter. Sie diskutieren, welcher Song von Ed Sheeran am besten ist - „Shape Of You" ist zu Mainstream; über vergangene Auftritte - das Privatkonzert letzten Winter in Hintertux ist heißer Favorit; was sie so an ihm mögen - er ist einfach so bescheiden. Ali ist meistens auf dem Sprung: holt sich blaue Slushie-Drinks vom nahen Olympiapark-Sommerfest, wechselt zwischen den kleinen Sitzgruppen durch, gestikuliert viel, benutzt Anglizismen wie „like" und „literally" in den meisten Sätzen. „Jeder kennt Ali, sie geht auf so viele Konzerte," sagt Anna. Zu Bands wie den Twenty One Pilots zum Beispiel oder zu ehemaligen One Direction-Mitgliedern. An Ed Sheeran kommt für sie aber keiner ran. Englisch ist mittlerweile Alis bestes Fach, da hat sie eine Eins. Sie schaut natürlich alle Interviews von Ed Sheeran im englischen Originalton. Das hat ihr geholfen, sagt sie. Nächstes Jahr, 12. Klasse, Abitur - was sie danach machen will, weiß sie noch nicht.
20:30 Uhr: die ersten breiten die Decken aus, Ferienlagerstimmung. Harter Boden, Gemurmel. Die Liste geht jetzt bis Nummer 34. Gegen 3:00 Uhr nachts fängt es leicht an zu tröpfeln, die Bäume halten das meiste ab. Zelte sind nicht erlaubt. Jemand hat gold-silberne Rettungsdecken dabei und verteilt sie. Viele kuscheln sich zu zweit darunter. Die Tropfen werden mehr. Einzelne wachen auf, rollen sich in Embryostellung und stülpen sich die knisternden Decken über den Kopf - als würde der Regen einfach verschwinden, wenn man ihn nicht mehr spürt. „Das schaut hier aus wie in einem Leichenlager", sagt eine. Ali liegt auf ihrer Matte, über den Kopf hat sie ihren Schirm gespannt. Nur ein bisschen schlafen. Vielleicht ein bis zwei Stunden. Morgen wartet Ed auf sie.
Der Ticketverkauf startete vor einem Jahr. Eine Stunde vor Beginn hatte Ali bereits am Laptop gesessen. Tickets hat sie für beide Konzerttage in München gekauft, jeweils Stehplatz, jeweils 95 Euro, jeweils mit dem Ziel, in die erste Reihe zu kommen. Ihr drittes und viertes Ed Sheeran-Konzert.
8:00 Uhr, Ali spielt auf ihrem Smartphone den ersten Ed Sheeran-Song des Tages ab: „You need me, I don't need you." Die nassen Isomatten trocknen schnell in der Morgensonne. Ali löst Anna für eine Stunde an der Liste ab. Inzwischen kommen größere Menschengruppen, fast ausschließlich weibliche Teenies. Eine Nummer abzukriegen ist begehrt, nur die ersten 500 bekommen eine. Sie dürfen eine halbe Stunde früher rein als die anderen Konzertbesucher, so die Info von der Security. Das ist die einzige Chance auf die erste Reihe. Ali hat die Nummer 17 auf ihrem Handrücken. Wenn alles klappt, wird sie Ed von ganz vorne sehen. Und er vielleicht sogar sie.
Ali hat Tattoo-Wünsche für die Zukunft: den Schriftzug „Hurricane" will sie auf den Unterarm, weil so zwei ihrer Lieblingslieder heißen. Und noch eine zweite Bedeutung hat es für sie: „Ein Hurricane ist ja eigentlich was Schlechtes, aber er bringt die Leute dazu zusammenzuarbeiten." Ein „+" soll darunter, der Titel von Ed Sheerans ersten Album. Es soll sie an positives Denken erinnern. Und mit 25 vielleicht ein Porträt von Ed Sheerans Gesicht. Sie will etwas warten, bei so etwas Großem will Ali sich wirklich ganz sicher sein.
10:30 Uhr, Alis Mission: Ed Sheerans Tourbus finden. Nach der Show könnten sie dann eventuell einen Blick auf ihn erhaschen. Mit Olga, extra aus Sankt Petersburg für das Konzert hergeflogen, und zwei Andreas, die sich schon von einem früheren Konzert kennen. Die eine hat damals an 20 Gewinnspielen teilgenommen, um Tickets für das Hintertuxer Privatkonzert zu gewinnen(hat geklappt), die andere hat sich gleich noch Tickets für das Wien-Konzert kommende Woche besorgt. Es geht einmal links um die Kurve, eine Andrea stapft voran. Da ist ein kurzer Fußgängertunnel, zwei Männer stehen am Ende, als ob sie Wache halten. Mist. Aber ein Grashügel links daneben führt auch hinüber. Andere Seite, die Straße führt zum VIP-Bereich, hier stehen schon die ersten Transporter, die Mädels verstecken sich dahinter.
„Wir sagen einfach, dass wir hier nur joggen - oder, dass wir eine Workout-Session machen", sagt Ali. Sie macht eine Kniebeuge. Alle lachen. Alle von ihnen haben Ed Sheeran-Shirts an. Die Straße hinunter entdecken sie den schwarz glänzenden Tourbus, sie lächeln zufrieden. Einer von den Transportern am Straßenrand ist nicht einfarbig, sondern knallig hellblau mit einem schwarz-weiß gezeichneten Ed Sheeran darauf. Sie posen mit ihm, Fotosession, später dann auf Instagram zu sehen.
Kurz vor 12:00 Uhr, zurück am Eingangsbereich. 30 Grad hat es inzwischen und die 500er-Liste ist voll. So langsam gibt es vereinzelt Vordrängel-Versuche, die Gruppe um Anna, der Koordinatorin, schreit sie alle wieder nach hinten. „Geht zurück, sonst holen wir die Security!" Ali und die Tourbus-Gang bestellen sich Pizza in die Schlange. Trinken ist jetzt nicht mehr so, denn nach Einlass aufs Klo zu gehen ist nicht mehr möglich, ohne seinen erste Reihe-Platz zu verlieren. Im Stadion setzt Ed „Castle on The Hill" zum Soundcheck an, klar hörbar für die Warteschlange. Jubel, viele zücken die Handys um für die Insta-Story den Ton aufzunehmen. Ali beißt in ihre Pizza Margherita, erzählt kauend, wie toll sie es findet, wie Ed auf die Bühne kommt, so ganz alleine, plötzlich hält sie inne.
...And I miss the way you make me feel, and it's real. We watched the sunset over the castle on the hill...
„Oh mein Gott, ich heul' gleich", sagt sie und fächelt sich mit ihren Händen Luft ins Gesicht, ihre Augen wirken feucht. Inzwischen gleicht die Schlange einer Strandpromenade an der Adria: schwitzende Körper reihen sich nebeneinander in der brennenden Hitze, Schirme ragen aus der Menschenmenge heraus - wenigstens ein bisschen Schatten. Die vorderen Nummern haben es besser, hier gibt es den Schatten der Bäume. „Wir haben uns das hier verdient", sagt Anna.
15:00 Uhr: kurz vor Einlass. Gedrängel und Geschiebe an den Eingangsschleusen, aber erfolgreich geordnet nach Zahlen. Einzelne werfen die Isomatten über die Absperrung bis die Security nörgelt. Sie sollen den Container benutzen, der direkt neben dem Absperrgitter parat steht. In dem stapeln sich jetzt die Übernachtungsutensilien. „Die Menschen sind doof!", sagt ein vorbeigehender Mann kopfschüttelnd zu seiner Frau, als er die ewig lange Schlange sieht, aber das hört Ali nicht.
15:09 Uhr, der Moment ist gekommen, die Schleusen des Olympiastadions öffnen sich. Ali darf jetzt endlich rein. Im Stadion wird sie noch einmal mehr als fünf Stunden warten müssen, bis sie Ed endlich sehen kann.
Nach dem Konzert wird sie erzählen, dass sie es in die erste Reihe geschafft hat. Und dass Ed sie beachtet hat.