Ein 30 Jahre altes Rollenspiel wird zum Kneipen- und YouTube-Hit: „Werwolf". Das Erfolgsgeheimnis ist ein Schuss Poker, Fantasy und etwas Mordsgaudi. Außer für die, die schon in der ersten Runde sterben.
Die drei Werwölfe sind sich einig: Der Dorfbewohner mit den lustigen Locken muss sterben. Der junge Mann, im wahren Leben Programmierer, hat es schon geahnt. „Ich sterbe immer in der ersten Runde." Tatsächlich ist er die erste Leiche des Abends. Nach seinem Tod sieht es so aus, als wäre er den Tränen nah. Die nächste Viertelstunde wird er sich an der Bar langweilen müssen, bis der nächste Tote sich zu ihm gesellt.
Der Ort des Meuchelns ist das Lokal „Interface" in Berlin-Mitte, in dem sich Erwachsene zu den unterschiedlichsten Spielen treffen. Heute Abend steht wie jeden zweiten Mittwoch im Monat „Werwolf" auf dem Spielplan, ein 30 Jahre altes Rollenspiel, das in jüngster Zeit eine beachtliche Popularität erfährt. Längst spielt man es nicht mehr nur daheim und auf Partys, sondern auch in Managerrunden oder auf Großveranstaltungen, jüngst etwa in einem eigenen Zelt beim Musikfestival „Wilde Möhre" in Brandenburg. Die Spieletester des Youtube-Kanals „Rocket Beans TV" wurden sogar regelrecht gezwungen, sich ab und zu in Werwölfe zu verwandeln. „Unsere Zuschauer haben im Onlineforum immer wieder gefordert, dass wir das spielen", sagt Rocket-Beans-Redakteur Gunnar Krupp.
Längst gibt es die raffiniertesten Werwolf-Regeln. Die Einsteiger-Variante verlangt nach mindestens acht Spielern und einem Spielleiter. Der weist jedem eine Identität per Karte oder Zettel zu. Schon ist man einer von vielen Dorfbewohnern oder wenigen Werwölfen. Der Spielleiter fordert die Spieler auf zu schlafen, also die Augen zu schließen. Die Werwölfe dürfen die Augen wieder öffnen und auf eine Person deuten, die sie töten wollen, dann schließen sie wieder die Augen. Im Anschluss werden alle zusammen geweckt, der Spielleiter verkündet, wer das Opfer war. Die Überlebenden diskutieren nun, wer unter ihnen ein Werwolf sein könnte, den sie nun per Abstimmung hängen, also aus dem Spiel wählen. Der Spielleiter lässt es erneut Nacht werden, die Werwölfe töten wieder, danach wird diskutiert. Das geht so lange, bis eine Gruppe ganz tot ist, bis Gut oder Böse gesiegt hat.
Jens Junge, Leiter des Instituts für Ludologie (Lehre vom Spielen) an der SRH Hochschule für Kommunikation und Design in Berlin, erklärt die Faszination damit, wie sich bei „Werwolf" Fantasie und wahres Leben vermischen: „Man wird zum Beispiel von einem guten Freund betrogen und angelogen, man testet also spielerisch Gefühle wie Ärger und Wut aus. Da lernt man seine Freunde noch mal ganz anders kennen." Die Werwölfe tun etwa tagsüber so, als wären sie brave Bürger - und nachts killen sie einen aus der Runde. Zudem, so Junge, sei die Sache entspannend analog. „Digital Detox" nennt er das und weist darauf hin, dass der Umsatz von Brettspielen 2016 um elf Prozent gestiegen ist. Die späte Karriere von „Werwolf" entspringt also auch einer Sehnsucht nach echten Begegnungen.
Die Charaktere reichen von der Puffmutter bis zum Minion.Das Ursprungsprinzip des Spiels erfand der russische Psychologiestudent Dimitri Davidoff in den 1980ern. Damals unterrichtete er bereits selbst und ersann für seinen Unterricht ein Spiel, bei dem es ihm um ein soziales Konstrukt mit vielen Unwissenden und einigen Wissenden ging. Daraus entwickelten die Studierenden eine Partyvariante mit Mafia-Charakteren, das sich zuerst auf russischen Unipartys und dann in andere Länder verbreitete. 2001 ersetzte der US-amerikanische Videospielentwickler Andrew Plotkin die Kriminellen durch eine Dorfgemeinschaft. Das griffen wiederum zwei französische Spieldesigner auf. 2003 erschienen ihre Rollenkarten in Deutschland, genannt „Die Werwölfe von Düsterwald". Inzwischen ein Klassiker, den es in jedem Spielzeugladen gibt, der sich aber auch mit Zetteln nachbasteln lässt.
In der „Interface"-Bar dürfen pro Partie 28 Leute mitspielen. In der Regel erscheinen mehr, stets sind die Männer stark in der Überzahl. Viele sehen so aus, wie man sich Computernerds vorstellt. Also nicht nach Fitnessstudio, sondern eher nach Denkerklause. Fast alle tragen Brille. Gespielt wird die fortgeschrittene Variante, durchschnittliche Werwolf-Erfahrung reicht hier nicht aus, um mit den Stammspielern mithalten zu können. Zurzeit haben die Berliner 54 verschiedene Rollen, die von der Puffmutter über die Nymphomanin bis zum Minion reichen. Die Dorfgemeinschaft besteht aus zwei Teilen, die in unterschiedlichen Räumen spielen. Der interessanteste Charakter ist für viele der Verbanner: Er kann Spieler zur anderen Dorfhälfte schicken, sodass Informationen zu ihnen gelangen.
Die meisten Rollen haben die sechs Männer erfunden, die den Werwolfabend organisieren. Alexander Lahn ist einer von ihnen, er war auch einer der drei Gründungsmitglieder: „Wir haben Werwolf immer privat gespielt, irgendwann war es in unserer Wohnung zu eng." Jetzt sei es ein „Communityding" geworden. Ein kostenloses, aber professionell strukturiertes Event mit einem festen Ablauf, der klarmacht, dass hier ein Ernst zu nehmender Denksport stattfindet: Limitierte Diskussionszeiten, die Hände bei der Abstimmung zählen nur, wenn die Arme ohne Beugungswinkel nach oben gestreckt sind. Als zwei Neulinge vor Beginn der Runde noch rauchen wollen, protestiert der Stuhlkreis: Sie könnten die andere Dorfhälfte im Nebenzimmer belauschen. Einige versuchen mit Tricks, sich ein Image als netter Bürger zu erwerben: „Ich weiß, dass man sich Vertrauen nicht erkaufen kann, aber ich habe Schokokekse dabei", ruft einer in die Spielrunde. Alex Lahn erklärt die Begeisterung für das Spiel unter anderem damit, dass man die Regeln sehr frei interpretieren kann. „Und du musst Menschen analysieren und abstrahieren können. Es ist eine Mischung aus Gesellschaftsspiel und Poker".
Die Werwolf-Videos von Rocket Beans werden um die 100.000 Mal geklickt, die Zuschauer sind laut Redakteur Krupp durchschnittlich zwischen 25 und 35 Jahre alt." Bevor die Rocket Beans ihre Sendungen auf YouTube stellen, werden sie dort und auf der Streamingplattform Twitch live übertragen. „Es ist wichtig, die Zuschauer miteinzubeziehen. Im Livechat können sie den besten Spieler bestimmen, der Bürgermeister wird und eine Stimme mehr hat. Sie können miträtseln, indem sie selbst die Augen schließen." Analoges Spielen verbindet sich mit digitalem.
Längst gibt es übrigens auch Werwolfvarianten für alle, denen die Sache zu blutrünstig ist. Da wäre etwa eine Büro-Version mit Büroangestellten und jähzornigen Chefs, die ihre Mitarbeiter feuern. Oder ein Dorf am Nordpol, in dem die Eisbären die dort lebenden "Eskimos" bedrohen. Ausscheiden macht trotzdem keinen Spaß.