Hannover. Harald Luther atmet tief ein und streckt sich. „Wir backen das Brot, wir teilen es aus", schmettert der Bäcker- und Konditormeister mit dem auffälligen Zwirbelbart gemeinsam mit seinen 16 Chorbrüdern. Sie haben sich in einem kleinen Saal in Hannover auf Stühlen in einen Halbkreis gesetzt. An der holzvertäfelten Wand hinter ihnen prangt auf einer Fahne aus hellem Stoff ihr Wappen und der Schriftzug „Männerchor der Bäcker-Innung Hannover".
Luther singt den zweiten Tenor in dem Bäcker-Chor, der 1878 gegründet wurde und gemeinsam mit den singenden Bäckern in Leipzig zu den ältesten in Deutschland zählt. „Backen und singen - das gehört einfach zusammen", findet der 66-Jährige. Als Präsident des Deutschen Bäcker-Sängerbundes koordiniert er die bundesweit 46 Bäcker-Chöre. Früher in der Backstube stimmte er gerne ein Lied an, während er Teig knetete, erzählt er: Das Backen und das Singen seien sehr alte, typisch deutsche Traditionen, die es zu erhalten gelte.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts kam es unter Handwerkern in Mode, im Chor zu singen, sagt Musikpädagoge Daniel Kosmalski von der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Neben Kegeln, Schützenvereinen und Turnen gab es nicht viele organisierte Freizeitbeschäftigungen. Als sich Handwerker nach einer Gesetzesänderung im Jahr 1881 zu Innungen zusammenschließen durften, gründeten sie vermehrt eigene Chöre. Diese waren auch deshalb sehr beliebt, weil bei den Zusammenkünften berufliche und persönliche Absprachen getroffen werden konnten. „Es war dumm, den Erfahrungsaustausch nicht wahrzunehmen", sagt Kosmalski, der für seine Doktorarbeit unter anderem die Entstehungsgeschichte von Chören in Betrieben erforscht. Auch Maler, Klempner und Schuster gründeten damals Chöre, sagt Kosmalski. Viele davon hätten sich aber mit der Zeit wieder aufgelöst. Heute bestünden noch Polizei-, Eisenbahner- und rund 20 Fleischer-Chöre.
Die 46 Bäcker-Chöre hätten vor allem wegen der besonderen Arbeitszeiten ihrer Mitglieder überlebt. Weil die Bäcker schon um 2 Uhr morgens in der Backstube stehen mussten, war die übliche Probenzeit am Abend zu spät für sie. Ihre Proben fingen bereits gegen 16 Uhr an.
Auch in Hannover ist es später Nachmittag, als Chorleiter Ulrich Behler in die Tasten greift. „Und jetzt singen wir im Stehen", ruft der Musiker, der auch Kantor im Kloster Loccum ist. Die Männer stöhnen und rappeln sich langsam auf, Stühle ratschen auf dem Parkett. Das jüngste Mitglied ist Mitte 50, der Älteste kommt seit fast 60 Jahren jeden Donnerstag zur Probe. Vor einem halben Jahrhundert hatte der Chor noch rund 70 Mitglieder, erzählt der 84-Jährige Werner Meese wehmütig. Von den aktuell 20 Sangesbrüdern, seien etwa ein Drittel gar keine gelernten Bäcker, erläutert Luther. Nur zwei von ihnen arbeiteten noch aktiv in ihrem Beruf. Aus Mitgliedermangel habe sich der Bäcker-Chor 1996 mit dem Männerchor des Silcherbundes zusammengeschlossen. „An den Liedern, die wir singen, liegt es nicht", betont Luther. Zwar gebe es wahnsinnig viele thematisch passende Volkslieder wie zum Beispiel „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach" oder „Backe, backe Kuchen". Ihr Repertoire sei aber viel größer und bunter.
Von Katharina Hamel