Schuhe sind die Kleidungsstücke mit der erotischsten Anziehungskraft. Sagen zumindest die Kuratoren der Ausstellung "Step by Step". Was nahe liegt, schließlich ist der Fußfetischismus oder schöner die Podophilie in ihren verschiedenen Ausprägungen so weit verbreitet, dass jenes Phänomen offiziell nicht einmal als Fetischismus eingeordnet wird. Damit hätte man natürlich eine Erklärung für die hier ausgestellten, exorbitant in die Höhe geschraubten Lackstiefel.
Anders als die Stiefel steht die These der Museumsmacher jedenfalls nicht auf wackligen Pfennigabsätzen. Für ihre Behauptung spricht etwa die jahrhundertealte Furcht der Sittenwächter vor gewissen Schuhmodellen. Zum Beispiel die Chopine: Der bis zu 50 Zentimeter hohe Stelzenschuh erregte vor allem im Venedig der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts so viel Aufsehen, dass seine Absatzhöhe streng reglementiert war. Die mit Leder bezogenen Schuhe galten den katholischen Herrschenden als anstößig. Wer zu hoch hinaus wollte, wurde damals bestraft.
Von der Renaissance bis zu den Ravern ist es zeitgeschichtlich vielleicht ein großer Schritt, aus der Perspektive des Schuhdesigns liegen sie jedoch nah beieinander. Denn die Chopine kann als historisches Vorbild der Towerstiefel gesehen werden; auf deren Blockabsätzen standen die Spice Girls genauso wie Technofans in den Neunzigerjahren.
Die Kuratoren des Deutschen Ledermuseums in Offenbach stellen in "Step by Step. Schuh.Design im Wandel" immer wieder über Jahrhunderte hinweg solche Verbindungen her. Flip-Flops? Finden ihr Vorbild in den indischen Padukas, einer Holzscheibe mit Pflock, die als Vorläufer der Zehenstegsandale gelten kann. High-Top-Sneaker der britischen Modedesignerin Stella McCartney spiegeln die Museumsmacher mit hochgezogenen Stiefeletten aus dem Weimar des 19. Jahrhunderts.
Derartige Vergleiche wären nicht möglich ohne die europaweit größte Schuhsammlung mit Exemplaren aus vier Jahrtausenden. Die Ausstellung rückt damit auch endlich die einzigartige Kollektion des Hauses ins rechte Licht. Bis zum Umbau vor einigen Jahren nämlich galt das Ledermuseum vielen als düstere Wunderkammer leicht skurrilen Zuschnitts.
Gerade weil die Schau so offenkundige Kontinuitäten freilegt, fallen die geografischen und historischen Unterschiede, Brüche und Besonderheiten auf. Es gibt schicke Schnallenschuhe für den europäischen Herrn des 17. Jahrhunderts, kostbar verzierte Halbschuhe für die Dame von Welt und kunstvoll gefertigte Reitstiefel aus Iran. Die Besucher können Samurai-Stiefel bewundern oder seltene Pokkuri-Getas, eine besondere Form der Geisha-Sandale: Sie wurden aus einem Stück Holz geschlagen und kündigten ihre Trägerin mit einem Glöckchen an, das in der Sohle klingelte.
Beiläufig wird die Geschichte der Schuhgestaltung erzählt, ihrer vielfältigen Materialien und Herstellung. Und es geht um die Bedeutung des Schuhwerks für sozialen Status und Gruppenzugehörigkeit. Der Schuhabsatz etwa war immer wieder umkämpftes Maß für Macht und Stärke. Deshalb waren die oben erwähnten Plateautreter zumindest in unseren Breitengraden einst auch den Männern vorbehalten. Viele andere Exemplare wiederum waren einfach nur als Fußbekleidung konzipiert, egal ob für Frauen- oder Männersohlen. Auch die Unterteilung in links und rechts musste erst gelernt werden. Sie geht zurück auf eine Empfehlung des Frankfurters Georg Hermann von Meyer.
Freiheit für die FüßeAb 1857 kämpfte der Anatom dafür, unseren Füßen mehr Freiheit zu geben. Er schrieb: "Soll nun die Sohle eines Schuhes gut sein, so muss sie so gestaltet sein, dass sie wenigstens die Hauptbewegung der Fußgelenke, wozu auch namentlich die Gelenke der großen Zehe gehören, ermöglicht; in derselbe muss sich deshalb die Linie von der Mitte der Ferse zum Großzehengrundgelenk und zur Großzehe wiederfinden."
Überhaupt sind Themen wie Komfort oder Fußgesundheit eine Erfindung der neueren Zeit: Um dem Schönheitsideal des kleinen, weiblichen Fußes zu genügen, wurden Schuhe früher extra eng und kurz gestaltet. Oder die Zehen gar in einer schmerzhaften Prozedur abgebunden. Selbst Füße von Babys und Kleinkindern wurden bis vor gar nicht langer Zeit in Absatzschuhwerk gezwängt - dafür stehen in der Ausstellung unter anderem die Kinderstiefelchen des damals einjährigen Prinzen von Wales, dem späteren König Edward VII.
Die Stelzschuhe der Mandschu-Frauen im China des frühen 19. Jahrhunderts waren so halsbrecherisch, dass ihre Trägerin nur mit zusätzlicher Stütze darin laufen konnte. Schuhwerk war eben immer schon mehr als nur praktisch. Wer sich heute über Avantgarde-Schuhmode wundert, sollte ruhig den historischen Blick wagen: Alles schon einmal da gewesen.
"Step by Step: Schuh.Design im Wandel", bis 10. Januar 2021 im Deutschen Ledermuseum in Offenbach am Main.[Gekürzte Version auf Spiegel.de] Rétablir l'original