Wer in den Neunzigerjahren einen deutschen Buchladen betrat, konnte mit etwas Glück einen Band mit merkwürdigen Abbildungen entdecken: Menschen schmieren sich Butter mit einer Art Pritt-Stift auf den Toast. Ein Baby krabbelt in einem Strampler mit Wischmoppfransen. Eine junge Frau trägt beim Essen einen lampenschirmartigen Kleckerschutz ums Gesicht. Hier und da wurde es offenkundig bizarr: Ein Wassertank an der Wade, in dem man beim Flanieren Kleidung in Mini-Portionen waschen konnte. Oder ein ans Essstäbchen gehefteter Ventilator, der die Nudeln aus der Nudelsuppe beim Essen kühlen sollte.
"Chindogu" lautete der Fachbegriff für die sonderbaren Gerätschaften. So stand es zumindest auf dem Buchtitel. Ah, Japan also! Und schon funktionierte die Einordnung - denn groteske Vorrichtungen plus eine gewisse Crazyness, das gehörte ebenso zum in die Welt transportierten Japanklischee wie der bekannte Dreiklang aus Fleiß, Disziplin und Ordnung. Es ist ja zugleich das Land, in dem sich Angestellte nach Feierabend fröhlich beim Karaoke blamieren, das der Welt schräges Spielzeug wie Tamagotchis und trashige Klamauk-Shows wie "Takeshi's Castle" bescherte.
Dennoch: Was hatte all dies zu bedeuten? In der Prä-Internet-Ära, als Instant-Googeln und Wikipedia-Abgleich noch nicht etabliert waren, fiel die Einschätzung etwas schwerer. Ob das alles nur ausgedachter Unfug war, um ein Buch zu füllen? Oder gab es die Chindogu Society, die im Buch als Urheberin der Kuriositäten genannt wurde, tatsächlich? Kurzum: Kann das echt sein?
Ja und nein - denn ein Chindogu bezeichnet sinnhaft übersetzt zunächst nur ein ungewöhnliches Werkzeug oder Gerät. Die Wortneuschöpfung setzt sich zusammen aus chin für ungewöhnlich, unpraktikabel, und dogu für Werkzeug. Wischmoppstrampler, Butterstift und Wadenwaschmaschine waren also grundsätzlich erst einmal real. Schließlich lautet die zweite goldene Chindogu-Regel: "A Chindogu must exist."
Allerdings, so Nummer eins aus dem Regelkatalog: Ein Chindogu darf niemals praktisch sein. Die Erfindungen aus dem Buch, das eine Chindogu-Auswahl erstmalig auch in Deutschland bekannt machte, waren somit allesamt nicht für die Serienproduktion gedacht.
Freiraum für Anarchohumor
Und wer hat's erfunden? Kenji Kawakami war's, geboren 1946 in der japanischen Präfektur Nara. Mit seinem Ingenieurstudium der Luft- und Raumfahrttechnik berechtigte er zu den schönsten Hoffnungen, nützliche Spezialgeräte zu entwickeln - doch 1970 verließ Kawakami die Uni oder flog raus, so genau ist das nicht überliefert.
Kawakami radikalisierte sich in den linken Studentenprotesten, die auch in Japan zu dieser Zeit aufkamen. Später wurde sein Leben bürgerlicher, es folgten Jobs wie der als Drehbuchschreiber für die Zeichentrickserie "Calimero" und später als Autor für "Mail Order Life", einen Bestellkatalog für japanische Hausfrauen, vornehmlich aus ländlichen Regionen. Damals in den Achtzigerjahren wurde so etwas wie die Flamme gezündet, die später im Feuerwerk der Chindogu-Beklopptheiten aufging: Kenji Kawakami erhielt einige Heftseiten zur freien Verfügung.
Statt nur fade Produktbeschreibungen zu verfassen, konnte er endlich seinem Anarchohumor freien Lauf lassen. Und begann, das Unpraktische zu zelebrieren. Fortan enthielt der Katalog neben real bestellbaren Produkten auch bizarre Erfindungen, die Hausfrauen nicht kaufen konnten - "und vermutlich auch gar nicht wollten", wie Kawakami selbst einmal anmerkte. Wobei die sperrige Augentropfen-Trichterbrille, eine seiner ersten Konstruktionen, bei ihm selbst dann doch ganz gute Dienste geleistet haben soll.
Ein bisschen berühmt
Eine hintersinnige kleine Attacke auf den eigenen Arbeitgeber, aber auch auf die eigene Tätigkeit als Anpreiser von Dingen, die eigentlich niemand braucht: In diesem Geiste kam das Chindogu also in die Welt. "Ich würde das Phänomen im Zusammenhang mit Japans überbordender Konsumkultur sehen", sagt Annette Schad-Seifert, Professorin am Institut für Modernes Japan an der Düsseldorfer Universität. Das könne man sich natürlich nur in einer Gesellschaft leisten, "in der es den totalen Überfluss gibt".
Das Chindogu als Anarcho-Gag auf den Kapitalismus, und der Erfinder weiß, dass er selbst knietief mit drinsteckt? Kawakamis politischer Hintergrund spielte in der knalligen Berichterstattung, die seine Chindogus bald weltweit bekannt machte, eher eine Nebenrolle, dürfte aber entscheidend sein für das Verständnis.
Den zehn Regeln zufolge soll ein Chindogu beispielsweise auch "frei von Vorurteilen" sein, jedem gehören, nicht käuflich und keine Propaganda sein. Es soll zum Lachen bringen, ohne auf billigen Witz abzuzielen. Dinge, erklärte Kenji Kawakami immer wieder, sollten nicht zum Ersatz für Menschen werden. Und weil Menschen Dinge schnell liebgewinnen - in einer Gesellschaft wie Japan, die an die Allbeseeltheit der Natur und somit auch jedes einzelnen Dings glaubt, vielleicht noch rasanter -, müssen diese so radikal jeglicher Funktion beraubt sein, dass man sie gar nicht erst in den Alltag integrieren mag. Rube Goldberg der Erfinder fantastischer, aber völlig sinnfreier Maschinen, lässt grüßen.
Binnen wenigen Jahren wurde Kenji Kawakamis Idee ein bisschen berühmt. Mit anderen an seiner Seite formierte er die Chindogu-Gesellschaft; überall erschienen um 1990 Bücher zu diesem amüsanten Nonsens. Die BBC-Kindersendung "It'll Never Work?" präsentierte Chindogus neben anderen kuriosen Erfindungen, die allerdings tatsächlich funktionieren sollten. In den USA galten Chindogus bald als japanische Albernheiten, in Europa als Kunstform, wie das Business-Magazin "Japan.Inc" 2002 treffend zusammenfasste.
Willkommen im Web-Wirrwarr
Kawakami selbst ging es um den universellen Gedanken. Mitmachen konnte jeder. Voraussetzung: die Einsendung eines selbst entworfenen Chindogus, fotografiert oder zumindest skizziert, das die zehn Regeln des "ungewöhnlichen Werkzeugs" erfüllt. Wenn Ideen ihm besonders gefielen, bastelte Kawakami sie gern selbst nach.
Inzwischen ist es ruhiger geworden um Kawakami. Sein Name taucht nur hin und wieder noch auf, zu besonderen Anlässen wie der Eröffnung einer Chindogu-Ausstellung vor 13 Jahren in Tokio. Richtig berühmt ist er dann doch nicht geworden, aus der eigenen TV-Show wurde nichts. Vielleicht besser so, schließlich wäre auch dies eine illegitime Verwertung seiner Chindogus, die sich ja per Definition dem Konsum entziehen sollen.
Und heute? Gern würde man Kenji Kawakami fragen, wie es mit der einst angeblich rund 10.000 Mitglieder starken Chindogu Society inzwischen ausschaut. Und ob sich seine Vorbehalte gegenüber der digitalen Welt, die er noch 2002 bekräftigte, bestätigt haben.
Zumindest theoretisch kann man den japanischen Erfinder direkt kontaktieren. Wenn man sich durch eine Website kämpft, die ausschaut wie ein Bastelwerk der frühen Nullerjahre. Einen einschlägig betitelten Mail-Button gibt es selbstredend nicht - aber neben einer Armada an Über- und Unterseiten, die mit einem Fotoklick manchmal auf völlig unzusammenhängende Webseiten führen, und unter dem Bild der solarbetriebenen Taschenlampe, eines weiteren Chindogu, taucht es dann doch auf: das Kontaktformular.
Der Versuch, dem Erfinder unsinniger Erfindungen ein paar persönliche Fragen zu stellen, blieb schließlich erfolglos. Wer weiß, ob das Formular mit einer echten E-Mail-Adresse verknüpft ist oder der eingetippte Text gleich im Nirgendwo verschwindet? Auch diese Option hat Kenji Kawakami natürlich mitgedacht: Beschwerden über ausbleibende Antworten, so die bestechende Logik, solle man einfach über das Kontaktformular durchgeben. Eine letzte kleine Gemeinheit gegen die überfunktionale, überschnelle Digitalkommunikation.