Gar nicht so lang ist es her, dass Martin Sonneborn mit einer "Die Partei"-Delegation in Georgien zu Besuch war und ebenjener Aufenthalt in der "Titanic" mit gräulich-bräunlicher Tristesse bebildert wurde. Rund zehn Jahre später bringen Billigflieger massenhaft Besucher in das immer noch sehr arme Land, die durchaus Instagram-taugliche Bilder mit nach Hause nehmen.
In der Hauptstadt Tiflis stehen einige Prachtexemplare der Sozialistischen Moderne - Gebäude, die einst für eine bessere Zukunft standen: Das Archäologische Museum mit dem pseudohistorischen Fries, das seine Besucher nach einem steilen Treppenaufstieg in seinem Schlund verschluckt. Der Hochzeitspalast, der heute vom Oligarchen Badri Patarkatsischwili bewohnt und deshalb so schnell wohl nicht abgerissen werden wird. Und natürlich das vielleicht berühmteste Beispiel für Sowjet-Brutalismus: fünf quer übereinander gelegte Gebäuderiegel, die früher einmal das Ministerium für Autobahnbau beherbergten.
Ikone des Sowjet-Brutalismus
In Tiflis treffen unterschiedliche Architekturstile aufeinander: Neben mittelalterlichen Kirchen und der orientalisch geprägten Altstadt sowie historistischen Vierteln südlich der Kura findet sich nahezu jeder prägende Baustil der letzten 150 Jahre in seinem ursprünglichen Zustand wieder. Was die Stadt zu einem unerschöpflichen Fundus für Architekturreisende macht.
Vor den Toren der Stadt zeugt eine mächtige Festung aus dem 5. Jahrhundert von der frühen Besiedlung, innerhalb der alten Stadtmauern schießen Luxuswohntürme in den Himmel. Hochhaussiedlungen mit halbrunden Fenstern, die an die georgische Schrift mit ihren Schwüngen und Bögen erinnern - Beispiele einer Städtelandschaft, die schwer anders auf einen Nenner zu bringen ist als "Hybrid Tbilisi" - so nennt das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt seine aktuelle Ausstellung, die im Rahmen der Einladung Georgiens als Gastland der diesjährigen Buchmesse entstanden ist.
Als christliche Enklave zwischen Orient und Okzident, zwischen politischer Unabhängigkeit, Bürgerkriegen und Sowjetunion sind Umwälzungen für diese Stadt eher Normal- als Ausnahmezustand. Allein seit dem Zerfall des Ostblocks durchliefen Georgien und seine Hauptstadt schon wieder mehrere Erneuerungszyklen.
Verfall und Aufbau
1991 erklärte das Land sich für unabhängig, es kam zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Nach dem "Weihnachtskrieg" zur Jahreswende 1991-92 mussten der Freiheitsplatz und die Rustaveli Avenue wiederaufgebaut werden. Mit der Unabhängigkeit kamen die privaten Investoren und die Marktwirtschaft. Trabantenstädte und Plattenbauten wurden dem Verfall überlassen.
Nach der "Rosenrevolution" kam Micheil Saakaschwili (2004 bis 2013) ins Amt. In seinen neun Jahren als Präsident trieb er die Erneuerung des Landes voran. Architekten mit internationalem Renommee sollten einen Gegenentwurf zum Kontext der Sowjetzeit bauen. Im ganzen Land wurden moderne Autobahnraststätten, luxuriöse Hotels und Verwaltungsgebäude von extravaganter, teils futuristischer Erscheinung errichtet.
Im sehr guten Katalog zur Ausstellung erinnert sich der deutsche Architekt Jürgen Mayer H. an seine Zusammenarbeit mit Saakaschwili: "Es begann mit einem Anruf aus heiterem Himmel" - eine Woche später besprach man schon die ersten Bauprojekte, heute stehen dreizehn von Mayer H.s Büro entworfene Gebäude und mehrere Skulpturen im Land.
Die Dynamik bleibt unberechenbar
Allerdings, so legt dieser fotografische Rundgang nahe: Die Dynamik bleibt in dieser Metropole unberechenbar - Abbruch, Vandalismus, bis ins Absurde überdrehte Historisierung oder gemächlicher Zerfall? Tiflis verströmt eine anarchische Energie. Wirtschaft und Politik, Bewohner, Investoren, Künstler, Hausbesetzer und -besitzer, Touristen, Architekten, Intellektuelle bestimmen hier wie überall auf der Welt die städtebauliche Entwicklung, in unterschiedlicher Gewichtung.
In Tiflis aber scheint diese Gemengelage als gigantisches Nebeneinander. So strebt die Stadt permanent in mehrere Richtungen zugleich. Manchmal bauen auch die Bewohner mit: In Nutzibidse Plato, einem einst modernen Neubaugebiet, haben sie ihre Hochhauswohnungen durch schachtelförmige Aufbauten erweitert - illegale Konstruktionen, teils so waghalsig, dass sie "Kamikaze Loggias" genannt werden. In der vierten, fünften oder sechsten Etage kleben Balkone, Holzhütten oder zusätzliche Zimmer am Ursprungsgebäude. Manchmal überdauern solche Zwischenlösungen Jahrzehnte: Nur was provisorisch ist, hält ewig.
Eben diese Zwischenmomente wollten die georgische Künstlerin und Kuratorin Irina Kurtishvili sowie Museumsdirektor Peter Cachola Schmal festhalten. Eher exemplarisch stellen sie prägende Epochen, Bauten und Stadtansichten vor. Und vier Beispiele für zeitgenössische Architektur, die dem langweiligen Euro-Style aktueller Neubauprojekte ('Vanilla' wird der im Katalog abschätzig zitiert) selbstbewusste Positionen entgegensetzen. Die Vorgehensweise der Kuratoren ähnelt daher nicht zufällig der einer Gruppe Archäologen: Es gehe darum, Tiflis' Schichtungen freizulegen.