Nordirlands Hauptstadt hat ein Pub, das schöner ist als seine Kirchen, ein Museum, das einem gesunkenen Schiff gewidmet ist und Sternerestaurants, die nicht viel kosten.
Wer von Kontinentaleuropa nach Belfast will, fliegt nach ... ? Richtig: Dublin - und nimmt von dort den Bus, der zwei Stunden lang durch ewiges Immergrün fährt. Von Belfast, immerhin die Hauptstadt Nordirlands, gibt es so gut wie keine Direktflüge nach Kontinentaleuropa. Bis vor Kurzem gab es nicht mal einen dezidierten Belfast-Reiseführer in deutscher Sprache, dafür aber haufenweise Artikel über den Nordirlandkonflikt. Warum also Belfast um alles in der Welt?
Weil die Stadt mit ihren gut 330.000 Einwohnern das vielleicht schönste Pub der ganzen Insel hat. Weil man die jüngste Vergangenheit Belfasts auf Wandbildern nachvollziehen kann, wie in einem Geschichtsbuch. Weil der St George's Market - auf dem man nicht nur lokale Handwerkskunst bekommt, sondern auch frischen Haifisch - als der beste Markt Irlands gilt. Weil in Belfast das größte und modernste Titanic-Museum der Welt steht (1911 wurde das "unsinkbare" Dampfschiff hier vom Stapel gelassen). Und, auch das sei erwähnt, weil man sich in dieser Stadt Sterneküche leisten kann.
Zunächst stößt man aber auf die Nachwirkungen des Nordirlandkonflikts, vor Ort schlicht the troubles genannt. Man kann die Mauern nicht übersehen, die offiziell Friedenslinien heißen und die Wohngebiete der proirischen Republikaner von denen der probritischen Unionisten trennen. Der Friedensvertrag zwischen beiden Parteien, das sogenannte Good Friday Agreement, ist knapp 20 Jahre alt. Für neuen Streit könnte nun der Ende Juni beschlossene EU-Austritt Großbritanniens sorgen. Denn anders als die meisten Briten, stimmte die Mehrheit in Nordirland gegen den Brexit.
Selbst die Herberge im Stadtzentrum, das Europa Hotel, ist Zeuge des Konflikts. Während der troubles, die von den späten 1960ern bis in die späten 1990er Jahre andauerten, wurden mehr als 28 Anschläge auf das Haus verübt. Die BBC drehte eine Dokumentation darüber, Wikipedia nennt es das am meisten bombardierte Hotel der Welt. "Stimmt nicht", korrigiert Desmond in seinem schnellen Nordirisch, "ist bloß das meist bombardierte Hotel in Westeuropa."
Desmond ist Guide, er verdient sein Geld mit Dark Tourism, zeigt Besuchern auch "die negativen Seiten der Stadt", wie er das nennt. Im Black Cab fahren wir die Mauern entlang, die die Stadt zergliedern. Für Desmond sind sie zum Sinnbild für die "friedliche Koexistenz von Katholiken und Protestanten" geworden.
Viele sind voller Murals, riesenhafter Wandmalereien, die den Nordirlandkonflikt und seine Helden zeigen: Männer mit Masken und Gewehren auf beiden Seiten. Nur die Namen sind andere, je nach dem auf welcher von beiden man steht. Die Verquickung von paramilitärischer und sozialistischer Ästhetik wirkt anachronistisch, dennoch scheinen die Bilder den Bewohnern beinahe heilig zu sein. Kein einziges Graffito ist darüber gemalt.
Es hilft nichts, leibhaftig davor zu stehen, dass die gigantischen Tore in den Mauern auch heute noch Nacht für Nacht geschlossen werden, bleibt absurd. Desmond selbst sieht die Sache mit Abstand: Er ist zwar auf der katholischen Seite aufgewachsen, lebt aber inzwischen in der ruhigen Vorstadt.
Für den Konflikt sieht er keine einfache Lösung, zu dunkel die Vergangenheit, außerdem fehle ein offizielles Versöhnungszentrum, weil man sich auf nichts einigen könne. Nicht einmal innerhalb der jeweiligen Communitys. Aber genug des Vergangenheitstourismus: "Geht mal lieber ins Stadtzentrum, da spielen all diese Dinge keine Rolle!", sagt Desmond und zeigt auf die Warteschlange, die sich vor einer Konzerthalle gebildet hat. "Hier fragt niemand ob du Katholik oder Protestant bist. Hier wollen alle eine gute Zeit haben, darauf kommt es an."
Wir steigen aus dem Taxi und gehen zu Fuß weiter, Belfasts Zentrum ist übersichtlich. Nach kurzer Zeit kennt man die wichtigsten Ecken: Das Cathedral Quarter mit seinen Kneipen, dem Oh Yeah Music Center und dem riesigen Kunst- und Kulturzentrum The MAC, die neu gestaltete Uferpromenade am Lagan und das Studentenviertel Queen's Quarter etwas außerhalb. Die Innenstadt hat sich herausgeputzt, trotzdem bleiben Lücken, Leerstellen und etliche "Zu verkaufen"-Schilder. Der Rest ist ein Mix aus Kirchen und Sozialeinrichtungen, Bingoclubs und Backsteinhäusern, hier und da stechen Prachtbauten wie die City Hall heraus, auf deren Rasen die Bewohner sitzen, wenn die Sonne scheint. Man kann dieses merkwürdige Hybrid aus Britischem und Irischem schnell ziemlich gut finden.
Andere gute Gründe für Belfast heißen beispielsweise Ox oder Eipic: Sternelokale, die herausragendes Essen für einen Bruchteil des Preises servieren, den man in anderen Metropolen bezahlt. Ein Probiermenü mit diversen Gängen kostet hier im Schnitt nur 40 bis 50 Pfund, die vegetarische Version noch etwas weniger, das Mittagsmenü sowieso. Da freut sich der kulinarische Hedonist, einmal wie ein Besserverdiener speisen zu dürfen.
Der Guardian und der Guide Michelin berichten folgerichtig schon länger über Belfasts vergleichsweise günstige Sterneküche und seine populären Pre-Theatre-Menüs am frühen Abend, für die man rund 15 Pfund bezahlt. Interessant sind daneben all die kleinen Läden und Lokale, die ihre Produkte selbst kochen, backen, destillieren und mit Zutaten aus der Umgebung zubereiten: zum Beispiel das Ulster Fry, die nordirische Variante des ohnehin üppigen britischen Frühstücks mit zusätzlichen Kartoffelplätzchen. Oder den legendären Afternoon Tea mit hausgemachten Scones und Sandwiches.
Auch das Ox hat sich den trendigen Losungen regional und saisonal verschrieben, wobei es ganz egal ist, ob man damit was anfangen kann oder nicht: Man wird so oder so hingerissen sein. Vom Fischtartar mit bunten Radieschen und essbaren Blüten, samtiger Nesselsuppe, Heilbutt mit Meeresfenchel, Tinte und frittierten Algen (die kulinarische Version einer salzigen Meereswiese) oder Erdbeerragout mit Mürbeteigkeks und Kamille; jeder Gang serviert vom jeweils verantwortlichen Koch oder Pâtissier.
Ein charmanter Brite ist für Bestellungen und alles drumherum zuständig und lässt ob seiner perfekten Umsorgung völlig vergessen, dass dieses Mittagsmenü nur mit lässigen 20 bis 25 Pfund veranschlagt ist. Danach sollte man unbedingt noch ein Destillat aus Nordirland probieren: Neben Whisky, Craft Beer und Cidre wird hier seit einiger Zeit auch wieder Gin hergestellt. Der Jawbox schmeckt geradezu düster-intensiv und hat so gar nichts mit den unbeschwerten Sorten zu tun, die im Zuge des Gin-Revivals momentan überall zu finden sind.
Man kann aber nicht nur gut essen und trinken in dieser Stadt, sondern auch schön. Letzteres gilt unbedingt für den Crown Liquor Saloon, Erzählungen nach eine der schönsten Bars in ganz Großbritannien. An jedem anderen Ort wäre dieses Lokal im viktorianischen Stil eine überteuerte Touristenhölle, hier aber treffen sich vor allem Geschäftsleute aus den umliegenden Unternehmen und Anwohner an der Theke. Wer es schummriger haben will, setzt sich in eine der Kabinen mit hohen Lederpolstern und feiner Holzvertäfelung. Der Klingelknopf, mit dem man einst den Kellner an den Tisch zitierte, ist inzwischen außer Betrieb. Sonst sieht alles noch aus wie im Eröffnungsjahr 1885.
Rétablir l'original