Italienisch, schweizerisch – Was macht den Zauber einer Landschaft aus, die der weltgereiste Schriftsteller nicht mehr verlassen wollte, nachdem er sie gefunden hatte?
Das Tessin zog zu Beginn des 20. Jahrhunderts einige Künstler und Freigeister an. Auch der mittellose Literat Hermann Hesse fand hier ab 1919 eine neue Heimat. In Montagnola schrieb er Romane, begann zu malen und half Flüchtlingen aus Deutschland – und blieb bis zu seinem Tode am 9. August vor 50 Jahren.
Dieses Tessiner Dorf, in dem „Klingsors Sommer", „Der Steppenwolf", „Narziss und Goldmund" oder „Das Glasperlenspiel" entstanden, wird heute zwar nicht mehr von armen Bauern und ein paar Pazifisten, Emigranten und Flüchtlingen aus ganz Europa, darunter Hesse bewohnt, doch die Weinberge, Obsthaine und Wälder der Landschaft, die den Dichter „stets wie eine vorbestimmte Heimat angezogen und empfangen" hat, strahlen über dem blauen See immer noch die ländliche Ruhe aus, die Hesse 43 Jahre lang die Kraft zum Schreiben und Malen gab.
"Wenn ich diese gesegnete Gegend am Südfuß der Alpen wiedersehe, dann ist mir zumute, als kehrte ich aus einer Verbannung heim, als sei ich endlich wieder auf der richtigen Seite der Berge", urteilte Hesse über seine Wahlheimat. Er war nicht der einzige Deutsche, den es magisch ins Tessin zog, den „italienischen" Schweizer Kanton. Der ehemalige Rektor der Goethe Universität und Begründer der "Frankfurter Schule", Max Horkheimer, verbrachte hier seinen Lebensabend, der Mitbegründer der Dada-Bewegung, Hugo Ball, wohnte hier und gemeinsam zogen sie eine illustre Schar von Besucherinnen und Besuchern ins Dorf. Darunter Bertold Brecht, Thomas Mann und Theodor Heuss.
Montagnola liegt oberhalb von Lugano am Fuße des "Zuckerhutes von Lugano" namens San Salvatore. Nachdem Hesse 1919 in der heruntergekommenen Villa Casa Camuzzi des damals noch bäuerlichen Dorfes seine Bleibe fand, trat er den Weg nach Lugano öfters zu Fuß an. Zahnarzt, Behördengänge oder Rechtsgeschäfte hießen seine Anlässe. Später waren es gelegentlich auch Lesungen im damaligen Grandhotel Palace, das heute zum Kulturzentrum LAC umgebaut wird. Oft zog es den Schriftsteller aber auch an die Piazza della Riforma und in die Via Nassa. Dort deckte er sich beim Buch- und Schreibwarenhändler Wega ein mit Schreibmaterialien und hielt ein Schwätzchen beim Tee mit dem Besitzer Ernst Fuchs, dessen Enkelin heute den Laden führt.
Einiges hat sich mittlerweile geändert an der Via Nassa, die parallel der schicken Uferpromenade verläuft. Die Straße ist heute die "Goethestraße von Lugano", ein Nobeldesigner reiht sich an den nächsten, dazwischen Juweliere mit ihren noch kostspieligeren Auslagen. Nur der Supermarkt Coop macht die knapp 415 Meter lange Einkaufsmeile der Reichen ein wenig bunter. "Hier kann man auf dem Dachgarten im Selbstbedienungsrestaurant für Schweizer Verhältnisse günstig essen", sagt die Fremdenführerin Christa Branchi. Auch sie eine Zugereiste, die das Tessin nicht wieder verlassen will: "Dieses Licht, dieses fröhliche Leben und die Zeiger unserer präzisen Schweizer Uhren sind hier elastischer", lächelt sie Ex-Züricherin verschmitzt. Ob ihr Grund auch Hesses Motiv war?
Am Ende der Via Nassa, gleich ans neue LAC anschließend, steht seit dem frühen 16. Jahrhundert die Kirche Santa Maria degli Angiolo, in deren Innern eine Kreuzigungsdarstellung und eine von Leonardo da Vinci beeinflusste Abendmahlszene von Bernardino Luini glänzen. Ansonsten übt sich Lugano im Spagat zwischen Belle Époque und modernem Beton, viel davon ist nach Ideen des heimischen Architekten Mario Botta in die Form gegossen. Die Altstadt am Ufer des Luganer Sees ist heute ein kleiner touristischer Magnet und die Stadt drittgrößter Bankenplatz der Schweiz. Hesse, der in der Renaissancemalerei des lombardischen Malers den Dialog zwischen dem Schweizer Bergland und der Kultur des klassischen Italien bewunderte, missfiel die anbrandende Geschäftigkeit des Tourismus drumherum aber schon 1927: "Vor einigen Jahren", schrieb er, "war im Tessin noch Mittelalter, war hier noch Paradies und Südsee. Jetzt ist das Tessin erobert von Berlin und Frankfurt, von Cook und Baedeker."
Doch für die Touristinnen und Touristen des 21. Jahrhunderts geht es immer noch vergleichsweise gemütlich zu. Schnuppern an den Ständen in den Fußgängerzonen, die Sonne an der Piazza della Riforma oder auf der umgrünten Terrasse des Grand Hotels Villa Castagnola au Lac genießen, die vielen karmesinrot leuchtenden Kamelien in der Stadt bestaunen. Nur die Strecke nach Montagnola auf dem Bergrücken Collina d'Oro hoch zu wandern wie einst Hesse, empfiehlt die Direktorin des dortigen "Museo Hermann Hesse", Regina Bucher, nicht: "Heute gibt es keinen Weg von der Collina d'Oro nach Lugano mehr, der nicht an verkehrsreichen Straßen und hässlicher Bebauung entlangführt". Sie schlägt stattdessen eine Bus- oder Autofahrt in das heutige Wohnsitzcluster der Reichen vor, in dem die Hesse-Stiftung das Museum mit Ausstellungen und Veranstaltungen unterhält. Ihr Tipp, wo die Tessiner Idylle noch ähnlich ländlich erfahrbar ist wie zu Hesses und Horkheimers Zeiten: Eine Fahrt mit der hundertjährigen Seilbahn auf den Monte Brè hinter dem Belle-Époque-Grandhotel Villa Castagnola führt in das Dorf Brè, in das auch Hesse seinerzeit gern Malausflüge unternahm. Und das Belle-Époque-Grandhotel eignet sich anschließend wunderbar, um "auf der richtigen Seite der Berge" ein wenig in der Vergangenheit zu schwelgen.
Weitere Informationen Lugano Turismo: www.lugano-tourism.ch
Museo Hermann Hesse Torre Camuzzi März bis Oktober montags bis sonntags zwischen 10 und 18.30 Uhr geöffnet. www.hessemontagnola.ch
Wandervorschläge: Regina Bucher, Mit Hermann Hesse durchs Tessin, Berlin (Insel Taschenbuch) 2012
Zum 50. Todestag erinnert einige Veranstaltungen u.a. in Montagnola und seiner Geburtsstadt Calw an den Literaten. Näheres unter www.hermann-hesse.de
Text: Karin Willen Rétablir l'original