Udo Freudling greift nach einer originalverpackten Damenstrumpfhose im 50er-Jahre-Look - Modell "Moni". Ein prüfender Blick, eine knappe Erklärung: "Die geht nach Afrika. Daraus machen die Kaffeefilter." Freudling wirft sie zurück zu den anderen Feinstrumpfhosen - und zieht aus einem Gitterwagen daneben ein Stück graubraunes Fell hervor. "Hase", vermutet er, und erklärt: "Echtes Fell wird in der Modeindustrie weiterverarbeitet." Dann geht er zu einem Kleiderstapel ganz hinten in der Ecke. Dort liegt ein Haufen geblümter Oma-Schürzen. Schwungvoll zieht Freudling eine herunter. "Süditalien", ruft er. Und fügt die Erklärung gleich an: "Tomatensauce." Udo Freudling braucht nicht viele Worte, wenn er über seine Arbeit spricht.
Gebrauchte Textilien sammeln, sortieren, weitervertreiben: Was nach Motten, Mief und Mildtätigkeit klingt, das ist längst ein globales Geschäft. Hart umkämpft und umstritten. Udo Freudling ist Teil dieses Geschäfts - als Kaufmännischer Leiter der Terec GmbH in Renchen in der Ortenau. Das mittelständische Unternehmen kümmert sich seit 1999 um das Recycling von Textilien und Schuhen. "Wir arbeiten vor allem mit den karitativen Organisationen zusammen", erklärt Freudling. Die Firma stellt dem Roten Kreuz, dem Kolpingwerk und anderen insgesamt 1800 Altkleidercontainer zur Verfügung - verteilt von der Schweizer Grenze bis nach Mannheim. Zweimal pro Woche leert Terec den Großteil der Container. 40 Tonnen Textilien gelangen so pro Tag nach Renchen und werden hier von Hand sortiert.
Die Altkleider werden in 250 Kategorien sortiert
Im Sekundentakt greifen die Arbeiterinnen in den Hallen nach den Kleidungsstücken. Ein routinierter Blick, prüfend wenden, dann ab in einen der grünen Gitterwägen. Die braune Kordhose rechts zu den anderen Hosen. Der Cowboyhut in Deutschlandfarben - zu den Flohmarktartikeln. Ein Teddy - zum Spielzeug. Hellblaues Sweatshirt, feucht - in den Müll. Ein einzelner Schuh - Freudling zögert. "Die werden nach Afghanistan verschifft", sagt er und sucht nach Worten. "Leider gibt es immer noch viele Minenopfer."
Die Arbeiterinnen bei Terec sortieren die Altkleider in 250 verschiedene Kategorien. Eines der Produkte: Jeans mit zerrissenen Hosenbeinen. "Ein Kunde von uns lässt die zu Shorts umarbeiten", sagt Freudling und lobt die ökologischen Vorteile von Textilrecycling. Eine neue Jeans aus Baumwolle schluckt in der Herstellung durchschnittlich 20 000 Liter Wasser. Etwa ein Viertel der weltweit eingesetzten Pestizide landet auf Baumwollfeldern. Aus Sicht der Umwelt ist die Verwertung von Altkleidern eine gute Sache, sie schont die Ressourcen.
Auch Textilien, die nicht mehr als Kleidung taugen, kommen in Renchen zu neuer Bestimmung: "Verwaschene, große T-Shirts aus saugfähigem, nichtsynthetischen Material zerschneidet einer unserer Kunden zu Putzlappen", erzählt Freudling. In der Autoindustrie wird aus Textilresten Dämmmaterial: Altkleiderfasern isolieren den Autoinnenraum oder dämpfen die Motorgeräusche. Mit knapp 55 Prozent sitzen die meisten Abnehmer der Firma in Deutschland. Gut erhaltene Kleidungsstücke wandern in Kleiderkammern und Secondhandläden - vor allem nach Freiburg. "Da gibt es viele Studenten, die gerne Secondhandkleidung tragen", sagt Freudling. Gut 17 Prozent des Exports gehen in die Niederlande, acht Prozent nach Belgien. "Durch ihre Kolonialgeschichte haben beide Länder noch intensivere Kontakte in afrikanische Länder und vermarkten die Kleidung dorthin weiter", erklärt Freudling - und erwähnt damit einen wunden Punkt des Gebrauchtkleiderexports. Richten unsere Altkleiderexporte Schaden in Afrika an? Sind Altkleiderexporte aus Europa mitverantwortlich für den Untergang der Textilindustrie in Afrika? Das ist seit vielen Jahren umstritten. Ja, sagt die NDR-Reportage "Die Altkleiderlüge". Darin ist eine Textilfabrik in Tansania zu sehen, die mit den Niedrigpreisen der riesigen Altkleiderbasare nicht mithalten kann und schließen muss. 2012 bezieht die Bundesregierung Stellung. Sie urteilt, "dass der Rückgang der lokalen Produktion nur zum Teil auf den Import von Alttextilien zurückführbar ist". Ähnlich sieht es der Dachverband Fairwertung, ein bundesweites Netzwerk, das sich für mehr Verantwortlichkeit beim Sammeln und Verwerten von gebrauchter Kleidung einsetzt. Andreas Voget, Geschäftsführer von Fairwertung, hält die Fernsehreportage für eine "schlecht recherchierte Mischung von Pseudoargumenten". Fairwertung hat das Problem der sterbenden Textilindustrie in Tansania und Kamerun untersucht - und fand heraus, dass vor allem hohe Energiekosten, ein schlechter Zugang der Betriebe zu Kapital, mangelndes Knowhow sowie fehlende Ersatzteile den Niedergang bewirken. Zudem seien in den Ländern Subventionen für die Textilwirtschaft genauso weggefallen wie Importbeschränkungen für ausländische Neutextilien. "Natürlich sind nicht alle Afrikaner glühende Secondhandfans, aber es ist einfach keine andere bezahlbare Mode für die Menschen da", sagt Voget. Udo Freudling glaubt sogar, dass die afrikanische Wirtschaft durch die Secondhandindustrie vorangetrieben wird. "Heute arbeiten mehr Menschen im Handel mit Altkleidern, als je in der Textilienherstellung beschäftigt waren."
Und warum treibt eine Hilfsorganisation wie das DRK mit Spendenkleidern Handel? Kann sie sie nicht Bedürftigen geben? "Das ist eine romantische Vorstellung", sagt Jürgen Skorski vom DRK Freiburg. "Die Kleidung in einen Container zu packen und zu verschiffen würde sich einfach nicht rentieren. Es ist wesentlich billiger und einfacher, die benötigte Kleidung vor Ort zu kaufen. Und so können wir gleichzeitig die einheimische Textilindustrie unterstützen." Die Containerkleider kommen auch in Deutschland nicht nur Bedürftigen zugute: "Unsere Kleiderkammer in Freiburg platzt mittlerweile aus allen Nähten. Den Bedarf hier können wir mehr als decken."
Das klingt nach Altkleidern im Überfluss. Doch die "Lumpen", wie Freudling sie schmunzelnd nennt, sind umkämpft. Der Wettbewerb wird härter. In Freiburg etwa ist die Zahl angemeldeter Sammler seit 2012 von 17 auf 26 gestiegen, sagt Rathaussprecherin Martina Schickle. 17 Organisationen davon sammeln gewerblich, darunter auch die Abfallwirtschaft und Stadtreinigung Freiburg GmbH (ASF).
Seit einigen Jahren ist der Markt unruhig geworden
Problematisch sind aber vor allem illegale Sammler, die auf den Markt drängen. Sie stellen ohne Genehmigung eigene Container auf, machen unangemeldet Straßensammlungen oder brechen kurzerhand fremde Container auf. Auch in Freiburg: Ein Dutzend illegale Sammlungen wurden hier 2013 registriert. Die Stadt forderte die Betreiber auf, ihre Container zu entfernen. An verkehrsgefährdenden Stellen schritt sie selbst zur Tat. Doch nun stellen illegale Betreiber ihre Container auch auf private Flächen. Dann sind der Stadt die Hände gebunden.
"Seit 2011 gibt es illegale Sammler", erinnert sich Freudling, "seitdem ist der Markt unruhig geworden und der Preis gestiegen." Früher zahlte Terec 15 bis 20 Cent pro Kilogramm Altkleider an seine Vertragspartner wie das DRK - jetzt sind 30 bis 40 Cent üblich. Andreas Voget von Fairwertung kennt die Gründe der Preisverdopplung: 70 Prozent der Weltbevölkerung tragen Secondhandkleidung. Mit der Weltbevölkerung wächst die Nachfrage. "Außerdem hat der Konkurrenzkampf der Sortierbetriebe den Preis in die Höhe getrieben", erklärt Voget.
Terec verzeichnet in der Folge Einbußen. "Unsere Container sind weniger voll, das merken wir", berichtet Freudling. Zehn bis 15 Prozent weniger Altkleider gelangen nach Renchen. "Wir sind zertifiziert, bezahlen den karitativen Organisationen Tonnagenpreise, zahlen Steuern und entlohnen unsere Arbeiter über Tariflohn", berichtet Freudling. "Die Illegalen zahlen weder Standplatzgebühr für die Container noch Tonnagenpreise und bringen ihre Beute obendrein zum Sortieren nach Osteuropa, wo sie ihren Arbeitern Hungerlöhne zahlen", klagt er. "Wir sagen dazu Mafia."
Die illegalen Sammler sind ein Riesenproblem
Besonders bitter ist das für karitative Organisationen. Seit den 1960er Jahren sammelt das DRK Freiburg Altkleider. Bis vor zwei Jahren waren es knapp 1000 Tonnen jährlich, nun sind es noch 860, so Jürgen Skorski vom Kreisverband. Und weniger Altkleider bedeuten für das DRK schlicht weniger Geld für Gemeinnütziges wie Notfallnachsorge, Rettungshundestaffeln oder Jugendarbeit. "Die Illegalen Sammler sind ein Riesenproblem. Die fallen wie die Heuschrecken über die Gemeinden her", seufzt Skorski. Manche stiften Verwirrung, werben mit weißem Kreuz auf rotem Grund. "Jeder, der vorbeiläuft, assoziiert das mit uns." Aber wie können Bürger erkennen, ob eine Altkleidersammlung seriös ist? Fairwertung rät, Kleidung nur in eindeutig bezeichnete Sammelbehälter zu werfen. Vorsicht, wenn nur eine Handynummer oder eine Kontaktadresse in einem entfernten Bundesland darauf steht. Auch warnt Fairwertung davor, sich durch emotional klingende Vereinsnamen wie "Hilfe für Flutopfer" täuschen zu lassen.
In Renchen schlendert Udo Freudling durch ein Tor zur nächsten Halle. Hier liegt Stoffballen an Stoffballen, blickdicht in grüne Plastikplane eingeschweißt - fertig zum Abtransport. Nur Kürzel verweisen auf den Inhalt: LSJ? Steht für "Lady Shirt Jeans", erklärt Freudling. Jeder Ballen wiegt 45 Kilogramm. "So kann er gut von einer Afrikanerin auf dem Kopf getragen werden", behauptet Freudling und klopft auf einen Ballen mit der Aufschrift LDS - Lady Dress Silk. "Zwei passen genau auf einen Esel - ein Ballen pro Seite."
- 750 000 Tonnen Gebrauchttextilien kommen in Deutschland pro Jahr zusammen - Rang eins in Westeuropa. - 70 Prozent der Weltbevölkerung kaufen Secondhandkleidung. - Insgesamt wird in Deutschland jährlich Kleidung im Wert von über 50 Milliarden Euro gekauft. - 25 Kilogramm Neutextilien kauft jeder Deutsche pro Jahr. - 7 Kilogramm Neutextilien werden weltweit pro Jahr und Kopf gekauft. - 43 Prozent der in Deutschland sortierten Kleider sind noch als solche brauchbar, 37 Prozent lassen sich nur noch an spezialisierte Unternehmen verkaufen, die sie zu Putzlappen, Reißwolle oder Dämmmaterial verarbeiten. - Zwei Drittel der in Deutschland gesammelten Textilien werden im Ausland sortiert.
Autor: Nikola Vogt und Karen Bauer