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Ausstellungskritik: Und weg mit den Minuten. Diether Roth und die Musik im Hamburger Bahnhof [für Kitty Berlin]

Dieter Roth ist vor allem für seine grafischen Arbeiten, Assemblagen, seine „Schimmelbilder“ und als Vertreter der konkreten Poesie bekannt. Was für eine essentielle Rolle die Musik im Werk des 1930 in Hannover geborenen, intermedial arbeitenden Künstlers spielte, wird in der Ausstellung „Und weg mit den Minuten“ erlebbar, die der Hamburger Bahnhof gemeinsam mit dem Kunsthaus Zug präsentiert. Die Kuratoren Matthias Haldemann und Gabriele Knapstein haben rund zweihundert teils noch nie ausgestellte Werke des in der Schweiz aufgewachsenen Künstlers zusammengetragen. 

Die ausladende Struktur der 330 Meter langen Rieckhallen, die seit 2004 dem Hamburger Bahnhof angegliedert sind, wird in ihrer ganzen Länge von der Ausstellung bespielt. Die weitläufigen Räumen bieten der Menge an Werken genug Luft zu wirken. Herzstück der Sammlung ist die monumentale und noch immer wachsende Gartenskulptur (1968ff), eine Schenkung Friedrich Christian Flicks. Seit Dieter Roths Tod 1998 betreut sein Sohn Björn die raumgreifende Installation.

Die Ausstellung vollzieht Roths Entwicklung vom Musikliebhaber – bereits als Sechsjähriger ging er freiwillig allein in klassische Konzerte – zum experimentierfreudigen Arrangeur von Klangskulpturen. Grafische Arbeiten wie das Aquarell „Unterhaltungsmusik“ (1968) zeigen Roths fast synästhetische Übersetzung von Musik ins Bildliche. Als passionierter Musiksammler besaß er auch ein eigenes Tonstudio. In den 1970er Jahren begann sich der hauptsächlich auf Island, in der Schweiz und in Deutschland lebende Künstler als selbsternannter „Dilletant“ jenseits von Beschränkungen des Komponierhandwerks als musizierender Künstler auszutoben. Seine absurden musikalische Expeditionen, von denen viele in einem „hausmusikalischen“ Umfeld mit seinen Kindern entstanden, bannte er auf Kassetten und verlegte sie teils in kleiner Auflage in handbemalten Schränken oder Koffern. In der Ausstellung lassen sich die verschiedenen Stimmen des Nahquartetts (1980-82), auf dem Roth und seine Kinder abwechselnd Aufnahmen von sich am Klavier, Violine, Cello und Viola machten, beliebig zusammenfügen. Die Aufnahmen haben keinen Anspruch auf musikalische Wertigkeit, sondern klingen eher wie besonders ausdauernde, aber ungeplante Übungsstunden. Viel Ausdauer braucht auch, wer Tibidabo (1977 – 1978) in seiner Gesamtlänge anhören will: Aus 24 Stunden Hundegebell, aufgenommen in einem spanischen Hundezwinger, entstand eine ebenso lang dauernde Soundinstallation. Ergänzt wird das klagende Gejaule und Gebell von rund 1000 Photographien und über 1000 Selbstportraits des Künstlers (natürlich als Hund). Roths musikalische Kreationen bilden Zeitkapseln, die auch den künstlerischen Schaffungsprozess in Echtzeit einfangen: Als der Radiosender SDR ihm 1976 eine dreiviertel Stunde Sendezeit zur Verfügung stellt, klimpert Roth einfach drauf los. Dabei kommentiert er sein eigenes Spiel und leert nebenher einige Gläser Whiskey – um die Minuten einfach herumzukriegen. Die Radiosonate Nr.1 rieselt im Hamburger Bahnhof aus Deckenlautsprechern in den Flur. 

Die Ausstellung garantiert eine komplette Versenkung in Dieter Roths musikalisches und musikbezogenes Schaffen. Beinah unerklärlich, wie es Roth gelingt, verschiedenste Medien in immer stimmigen Assemblagen zu verbinden. Die Kuratoren haben sich für eine nicht-chronologische, eher intuitive Aufteilung der Ausstellung entschieden, die den Marathon durch 3000 Quadratmeter Roth-Kosmos erstaunlich kurzweilig und die Werke sehr zugänglich macht. Einzig die Werke zeitgenössischer KünstlerInnen, die die Roth-Ausstellungen ergänzen sollen, gehen dabei zwangsweise etwas unter. 

 

Und weg mit den Minuten. Dieter Roth und die Musik. Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart. 14. März bis 16. August. So 11:00 - 18:00
Mo geschlossen
Di 10:00 - 18:00
Mi 10:00 - 18:00
Do 10:00 - 20:00
Fr 10:00 - 18:00
Sa 11:00 - 18:00 

Museumskarte Sonderausstellungen + Hamburger Bahnhof
14,00 EUR ermäßigt 7,00