No Limits Festival 2017 - Das Inklusionstheater-Festival in Berlin zeigt Arbeiten mit gehörlosen Performern und verabschiedet sich von Jérome Bels "Disabled Theater"
von Julika Bickel
Berlin, 13. November 2017. Am Ende des Theaterstücks "Jeden Gest" (Eine Geste) fangen zunächst viele wie gewohnt an zu klatschen, doch dann ist da ein Moment der Verunsicherung. Die vier Schauspieler*innen des Nowy Teatre aus Warschau sind gehörlos. Immer mehr Zuschauer*innen strecken ihre Hände in die Höhe und schütteln sie wie Glöckchen - die Geste für Applaus. Ganz still ist es im Saal.
Beim internationalen Theaterfestival "No Limits" will man auch in der diesjährigen Ausgabe Konventionen aufbrechen und Verhaltensregeln hinterfragen. Noch bis zum 18. November zeigen Künstler*innen mit und ohne Behinderung ihre Stücke an den drei Berliner Spielstätten HAU, Theater Thikwa und Ballhaus Ost. Vor zwanzig Jahren hat Andreas Meder als Leiter der "Lebenshilfe Kunst und Kultur" das erste Theaterfestival dieser Art im deutschsprachigen Raum in Mainz organisiert und etablierte den Begriff des integrativen Theaters. Inzwischen nennt man es Inklusionstheater. Es war als einmaliges Ereignis geplant, doch der Erfolg sei so überwältigend gewesen, erzählt Meder, so dass man sich verpflichtet gefühlt hätte, es weiterzuführen. Seit 2005 gibt es das No Limits Festival in Berlin, zum achten Mal findet es dieses Jahr statt.
Verbotene Gebärdensprache
Angesichts der verschärften politischen Lage will Meder auch in der diesjährigen Ausgabe den Blick auf die Frage lenken, was in performativen Künsten von und mit Menschen mit Behinderung politisch sei. Ist das schon allein die Tatsache, als behinderte*r Künstler*in auf der Bühne zu stehen? Welche Strategien gibt es, um auf der Bühne politisch zu wirken? Im Auftakt-Stück "Jeden Gest", auf Deutsch "Eine Geste" (das jüngst beim Festival Fast Forward gewann), tragen vier gehörlose Menschen eine selbstgeschriebene "Hymne der Gehörlosen" vor, die so beginnt: "Unsere Welt der Tauben ist klein, / Aber unsere Rechte - können kämpfen. / Hörende - Taube - 'ungleich'? / Nein, gleich!"
Die vier Darsteller*innen erzählen ihre individuellen Lebensgeschichten. "Betrachtet mich bitte nicht als Vertreterin der Gehörlosen", sagt eine. Sie alle gehen unterschiedlich mit ihrer Hörbeeinträchtigung um, zu Themen wie Hörgeräten haben sie ganz verschiedene Meinungen. Alle jedoch haben Formen der Ausgrenzung und der Diskriminierung erfahren, besonders als Kinder im sozialistischen Polen. Die Gebärdensprache war verboten, sie mussten von den Lippen ablesen. Die Gebärdensprache bedeutet daher für sie vor allem eins: Freiheit.
Nach eigenen Regeln
Manchmal überfordern die vielen Sprachen in der Inszenierung: Die Schauspieler*innen verwenden die polnische Gebärdensprache, eine Dolmetscherin - die im Zuschauerraum vor der Bühne sitzt - spricht in ein Mikrofon die polnische Übersetzung, auf einer Leinwand steht eine deutsche und englische Übersetzung geschrieben. Aber nicht alles wird dadurch erklärt. Die Gebärdensprache ist Thema und Mittel zugleich. Wie viele verschiedene Gebärdensprachen es zum Beispiel gibt, wird deutlich, als sie auf polnischer, schwedischer, deutscher und internationaler Gebärdensprache zu zählen beginnen.
Mit viel Selbstironie demonstrieren sie die Eigenheiten der Gebärdensprache, die sich nicht nur auf die Hände beschränkt. Manches erfordert vollen Körpereinsatz. Für einen Ausruf zieht man die Brauen kraus, reißt die Augen weit auf, öffnet leicht den Mund und richtet sich mit dem ganzen Körper dynamisch in Richtung des Empfängers. Geradezu absurd wirkt die expressive Mimik und energische Körperhaltung bei der Geste "Genieße die Vorstellung!".
Feministischer Krimi
Einer der Höhepunkte des gesamten Festivals ist definitiv das Drama von Dennis Seidel "Der Tag, an dem Kennedy ermordet wurde, und Mimmi Kennedy Präsidentin wurde". Seidel ist Künstler mit geistiger Behinderung, Mitglied bei "Damen und Herren" aus Hamburg, und ist nicht nur Regisseur des Abends, sondern spielt selbst auch mit. Es ist ein unglaublich witziges und rührendes Stück, ein politischer und feministischer Krimi, in dem es um Schuld und Versöhnung geht, und vor allem: um die Liebe zwischen Schwestern. Seidel überraschte in der letzten Festivalausgabe mit der Solo-Performance "Ordinary Girl" und beweist auch dieses Mal wieder ein besonderes Gespür für Humor und Tragik. Die Sprache ist leicht, die Handlung dafür sehr komplex. Im Wesentlichen geht es darum, dass der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy ermordet wird und die Täterin gefunden werden muss. Falsche Personen werden verdächtigt und angeklagt.
Seidel spielt die Reporterin Liv Split und gerät selbst in Verdacht. Neben den fünf Darsteller*innen spielen auch zwei Barbie-Puppen als Figuren mit. Eine ungewöhnliche Komik entsteht in der Doppelung von Text und Bild, und wenn diese gebrochen wird, zum Beispiel als der Erzähler sagt, die Polizistin Jessica schaue unauffällig in Alicias Tasche, und man sieht, dass dies rein gar nicht unauffällig geschieht. Feministisch wird das Stück durch die Besetzung aller Hauptrollen mit Frauenfiguren, eine Polizistin und eine Reporterin lösen den Fall, den Mord begeht eine Frau und die Tochter Kennedys wird die neue Präsidentin.
Ehe nicht für alle
Für Gleichberechtigung spricht sich auch die mixed-abled Gruppe dorisdean in ihrer interaktiven Performance "Hypergamie - Hochzeit mit Hindernissen" aus. "Ehe für alle" scheinen sie zu fordern und hinterfragen gleichzeitig, ob eine Ehe zwischen einer behinderten und nichtbehinderten Person überhaupt funktionieren kann. Im Stück, das in den 1920er Jahren spielt, ist die Braut körperlich behindert, der Bräutigam nicht. Die Zuschauer sind die Gäste. Einzeln wird man in den Hochzeitsaal eingelassen, erhält ein Namensschild und wird in behindert oder nichtbehindert eingeteilt. Manche bekommen einen Schaumstoffverband für den Arm, Schalldämpfer für die Ohren oder müssen im Rollstuhl fahren.
Alles läuft ab wie auf einer realistischen Hochzeit: Es gibt Kartoffeln und Sauerkraut, danach Torte zu essen, peinliche Spiele werden gespielt und ein Sänger tritt auf, die Trauzeugen halten teils grenzwertige Reden, in der die Braut als Krüppel bezeichnet wird. Dorisdean spielt mit Tabubrüchen, die sich steigern. Der Bräutigam gelobt, nie ein Verhältnis mit der Assistentin seiner Braut anzufangen, beim Hochzeitstanz zwischen Bräutigam und Assistentin rutscht seine Hand jedoch immer mehr Richtung Gesäß. Die Provokationen gehen leider nicht weit genug. Dem Stück hätte es gut getan, wenn es mit einem Schockmoment, einer totalen Eskalation geendet hätte. So entstand zwar ein bitterer Beigeschmack, doch die Hochzeitsgesellschaft blieb allzu fröhlich - man tanzte mit und ohne Rollstuhl auf der Tanzfläche -, und löste sich dann irgendwann einfach auf.
Durch milchige Fensterscheiben
"Unser Ziel ist es ja eigentlich, dass wir uns abschaffen", sagt Festivalleiter Andreas Meder. Produktionen mit behinderten Schauspieler*innen sollten selbstverständlicher Bestandteil des regulären Kulturangebots sein. Aber es sei noch lange nicht selbstverständlich. Inzwischen sehe er das mit der Abschaffung aber nicht mehr so verbissen. "Die Festivals haben für sich auch einen Wert." Kunst und Behinderung sei keine kohärente Szene und mit den Festivals schaffen sie die Zusammenhänge, bieten Räume des Austauschs. "Wir bringen Leute zusammen." So fanden sich zum Beispiel auch Jérôme Bel und das Theater HORA für die HAU-Koproduktion Disabled Theater (2012), das Stück gilt immer noch als role model des Inklusionstheaters. Aber nach rund 180 Aufführungen in über 20 Ländern wird es seine beiden allerletzten Aufführungen auf dem diesjährigen No Limits Festival präsentieren.
Was Begegnung auf gleicher Augenhöhe bedeutet, kann man eindrücklich im Stück "Luegen" der Münchner Kammerspiele beobachten: Wiebke Puls und Kassandra Wedel, eine hörende und eine gehörlose Schauspielerin, treffen aufeinander. Das Stück ist ein Ausprobieren, ein Kennenlernen, ein Experiment. Es geht um die Suche nach der Wahrheit, nach dem Authentischen, vor allem aber geht es ums Vertrauen fassen und den anderen verstehen lernen. Am Anfang sind die beiden Frauen zwei mysteriöse, weiße Gestalten. Etwas unheimlich ist es, als man sie durch milchige Fensterscheiben zwischen Gestrüpp umherschleichen sieht. Sie tragen Helme, wie man sie vom Fechten her kennt. Dann nehmen sie die weiße Kleidung ab und begegnen sich im Fahrstuhl, schauen auf den Boden oder fixieren das Licht an der Decke, sind scheinbar interessiert an den wechselnden leuchtenden Zahlen der Stockwerke, tun so, als wäre die andere Person nicht da.
Hörgeräte und andere Lügen
In Videos erzählen sie sich gegenseitig etwas über sich und versuchen dann zu erraten, was davon wahr und was gelogen war. Sie versuchen sich gegenseitig von den Lippen zu lesen. Wedel spricht Deutsch, etwas undeutlich, aber man kann sie verstehen. Puls übersetzt in Gebärdensprache. Wedel sagt, das Hörgerät sei für sie eine Lüge, sie verstand nichts, alles war verzerrt. Ein Freund schenkte ihr einen Plattenspieler, lange habe sie sich nicht getraut, ihn zu benutzen. Zusammen legen sie eine Platte auf, Wedel spürt die Vibrationen über den Boden. Mittels Live Looping komponieren sie schließlich selbst gemeinsam Musik: Zunächst zeichnen sie den Sound von einer großen Trommel auf, hinzu kommen Geräusche von einem alten Telefon und anderen Gegenständen, sie lachen ins Mikrofon. Puls singt "Sometimes I like to lie", während Wedel dazu tanzt. Dabei fließen Gesten und Tanzbewegungen ineinander und sind kaum voneinander zu unterscheiden.