Marvel, "Star Wars" oder "Die Ringe der Macht": Filme und Serien werden immer epischer. Warum kommen einem diese fantastischen Welten dennoch leer und unbedeutend vor?
Es gibt da draußen ein Universum, in dem sind wir alle Farbkleckse. Zumindest, wenn es nach Doctor Strange in the Multiverse of Madness geht, einem der großen Marvel-Superheldenfilme des vergangenen Jahres. Doctor Strange (Benedict Cumberbatch) ist auf der Flucht vor seiner Widersacherin durch ein knappes Dutzend Parallelwelten gestürzt. Bedröppelt fragt er seine Begleitung: "Diese Universen, durch die wir gerade gereist sind, waren wir Farbe in einem von denen?" "Ja", antwortet die abgeklärt, "da wollen Sie nicht steckenbleiben. Essen ist dort echt schwer."
Das Farbklecksuniversum in Doctor Strange ist - genau wie das benachbarte Bauklotz- und die anderen Sekundenbruchteiluniversen - ein toller Gimmick, eine Visitenkarte für das Visual-Effects-Team von Marvel. Einerseits. Andererseits aber zeigen die wenigen Sekunden, in denen Doctor Strange und seine Begleitung in Slow Motion wie der Inhalt eines dahin geworfenen Farbeimers durch die Luft fliegen, welche Möglichkeitsräume des Erzählens hier plötzlich offenstehen.
Multiversen sind seit einigen Jahren überall, nicht nur bei Marvel. Die Geschichten, die uns in den großen Film- und Serienfranchises dieser Tage präsentiert werden, sind epischer denn je, die Welten größer, die Einsätze höher. Regelmäßig steht das Schicksal eines oder mehrerer Universen auf dem Spiel. Gleichzeitig aber beschleicht einen als Zuschauer immer öfter ein merkwürdiges Gefühl. Oder besser: Man realisiert die Abwesenheit eines Gefühls. Je epischer die Welt, desto kleiner erscheint die Geschichte. Je tragischer das Schicksal, desto egaler und austauschbarer die Charaktere.
Doctor Strange in the Multiverse of Madness ist der Marvel-Film, der sich bislang am weitesten in parallele Welten wagt. Aber er ist nicht der erste: InSpider Man: No Way Home (2021) führt das Multiversum alle drei bisherigen Kino-Spider-Mans zusammen, gespielt von allen drei bisherigen Kino-Spider-Man-Darstellern, um sie gegen ein Best-of aller bisherigen Kino-Spider-Man-Bösewichte antreten zu lassen. In den Avengers-Filmen Infinity War (2018) und Endgame (2019) sind es Zeitreisen, die Heldinnen und Helden mit möglichen Alternativwelten und -versionen ihrer selbst konfrontieren. Eine Idee, die wiederum in der Serie Loki (2021-) weitergeführt wird. In der heuert der am Ende doch irgendwie gute bad guy Loki bei einer Firma an, die sich um den korrekten Fluss des Zeitstrahls kümmert.
Multiversen schaffen unendlich viele erzählerische Möglichkeiten. Doch wenn alles immer möglich ist, haben Handlungen keine Konsequenzen mehr; wenn alles auf dem Spiel steht, steht eigentlich nichts auf dem Spiel. Ist es dramatisch, tragisch oder katastrophal, wenn in Avengers: Infinity War die Hälfte der Menschheit durch ein Fingerschnipsen stirbt? Nein, es lässt einen kalt, weil der Zeitreiseplot des nächsten Films alles wieder rückgängig macht. In letzter Konsequenz heißt das: Keine Entscheidung ist es mehr wert, getroffen zu werden. Es gibt kein Ende mehr, aber auch keine Entwicklung. Alles verharrt im Status quo der unendlichen Möglichkeiten auf den Leinwänden, Bildschirmen und Screens. Und davor.
Es ist schon ein paar Jahre her, da hat der US-amerikanische Regisseur Martin Scorsese, ausgewiesener Spezialist für episches Erzählen im Kino, einen seitdem viel zitierten Satz über das Marvel Cinematic Universe gesagt: " That's not cinema." Das ist kein Kino. Viele haben diese Äußerung als die Kritik eines alten Mannes gedeutet, der den Anschluss an die Gegenwart verloren hat. Das mag ein kleines bisschen stimmen. Das Kino ist selbstverständlich nicht mehr so, wie es einst war in den großen, wilden Kinojahrzehnten des 20. Jahrhunderts, nicht mehr wie in der filmischen Moderne der Sechziger, im New Hollywood der Siebziger, bei den Poststrukturalisten der Achtziger.
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