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Wo das Gesundheitssystem schwächelt

Die Bevölkerung altert, die Medizin entwickelt sich weiter. Uneinheitliche Finanzierungsströme, mangelnde Gesundheitsbildung und ungenützte Daten sorgen für Probleme.

Der Verein Praevenire ist das neueste Projekt des früheren Finanzministers Hans Jörg Schelling. Gemeinsam mit nationalen und internationalen Experten will der ehemalige Finanzminister herausfinden, wo das österreichische Gesundheitssystem krankt. Die Initiative wird im nächsten Jahr einen Leitfaden für ein nachhaltiges Gesundheitssystem bis 2030 herausgeben und lud zuletzt zu einer Bestandsaufnahme.

Einsparungen durch Systemreformen?

Ab ersten Jänner gilt die von der türkis-blauen Bundesregierung beschlossene Reform der Sozialversicherung. Damit wird das System neu organisiert und fusioniert. Die Politik verspricht Einsparungen im Milliardenbereich. Bei der Bevölkerung sorgt der Vorstoß für Skepsis. Seit einigen Monaten steht die nachhaltige Sicherung des Gesundheitssystems auf der Wunschliste der Österreicher ganz oben. Die Angst ist groß: Wie soll garantiert werden, dass am System und nicht am Patienten gespart wird?

Patientenanwalt Gerald Bachinger ortet in der mangelnden Patientenbeteiligung bei der Gesundheitspolitik ein Problem: „Wenn wir den Patienten in den Mittelpunkt stellen wollen, müssen wir davon wegkommen, dass Experten mit Experten über Patientenbedürfnisse reden.“ Es brauche mehr Gesundheitskompetenz und Bildung, damit sich die Patienten an den Entscheidungen beteiligen könnten. Die Digitalisierung bringe neue Möglichkeiten, Bürger bei der Planung miteinzubeziehen. Dafür müsse aber die „Blackbox“ Gesundheitssystem aufgebrochen werden. Bachinger spricht sich für eine Transparenzoffensive aus: „Die Bürgerpatienten müssen wissen, was mit ihren Sozialversicherungsmitteln geschieht. Weg mit den Geheimzirkeln hinter verschlossenen Türen.“

Dafür sei es wichtig, vorhandene Informationen aufzubereiten. Es gäbe viele Datenschätze im österreichischen Gesundheits- und Informationssystems (ÖGIS), allerdings müsse das Gold auch geschürft werden.

Finanzierung als Herausforderung

„Wir haben im österreichischen Gesundheitssystem 4000 Finanzierungsströme, da kann niemand nachvollziehen, wo wann was wie wohin läuft“, sagt Schelling. Die komplexen Finanzierungsströme würden die Behandlung beeinträchtigen. Als Beispiel nennt Bachinger den Konflikt zwischen Gebietskrankenkassen und Krankenhäusern bei der Krebsversorgung. Krebsmedikamente würden von niedergelassenen Ärzten nicht verabreicht werden, da die Kosten im Krankenhaus angedacht sind. Eine zentrale Forderung von Praevenire ist deshalb die Finanzierung aus einem Topf. „Welchem Träger das Krankenhaus gehört, ist dem Patienten wurscht. Der möchte einfach nur versorgt werden“, sagt Schelling.

Thomas Szekeres, Präsident der österreichischen Ärztekammer, verlangt nach mehr Geld im Gesundheitssystem. Im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz würde Österreich mit 10 Prozent des BIPs zu wenig investieren. Er fordert eine Anhebung von ein bis zwei Prozentpunkten.

Eigenverantwortung und Prävention

In Österreich sei Prävention nach wie vor ein untergeordnetes Thema. Während viel Geld in die Behandlung gesteckt werde, bleibe die medizinische Mündigkeit auf der Strecke. „Es reicht nicht, wenn die Politik entscheidet, dass wir Radwege bauen, aber niemand mit dem Rad fährt. Health Literacy ist nötig: Das Präventionsproblem ist stark von Bildung und Einkommen abhängig“, sagt Schelling. Es brauche mehr Anreize für gesundheitsförderndes Verhalten. Es gäbe viele Früherkennungs- und Disease Management Programme, allerdings würden Betroffene nicht darüber Bescheid wissen. Nur 13 Prozent der Betroffenen würden beispielsweise an Diabetesprogrammen teilnehmen. Im Vergleich: In Deutschland seien es 50 Prozent. 

Privat vs. öffentlich

„Es besteht eine riesige Gefahr, dass sich das öffentliche, solidarische Gesundheitswesen immer weiter verdünnt“, sagt Bachinger. Gerade in der Kinder- und Jugendheilkunde herrsche ein akuter Mangel an Kassenärzten. Wegen der langen Wartezeiten hätten viele Patienten keine Wahl: Sie müssten zum Wahlarzt gehen, wenn sie zeitnah behandelt werden wollen. Auch die Betreuung spiele eine Rolle. Viele Patienten würden zum Wahlarzt gehen, weil der sich im Vergleich zu den Kassenärzten mehr Zeit für persönliche Gespräche nehmen könne, sagt Szekeres. Die Entwicklung einer Zweiklassenmedizin müsse verhindert werden. „Das öffentliche System muss soweit ausgebaut werden, dass es zu keinen Engpässen kommt“, führt Szekeres fort.

Schelling sieht Veränderungsbedarf in der Ausbildung und der Bezahlung von Wahlärzten. Die Beratung und der persönliche Kontakt zu den Patienten müsse entlohnt werden. Außerdem müsse das Berufsbild an den Bedarf angepasst werden: Altere die Gesellschaft, brauche es beispielsweise mehr Fachärzte für Geriatrie.


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