Herr Palmer, wenn Sie heute 20 wären, würden Sie sich dann auch auf Straßen kleben?
Palmer: Nein. Ich bin aus Protest schon auf Schornsteine geklettert, aber für mich ist Schluss, wenn man andere gefährdet. Trotzdem wäre ich sicher in der Nähe dieser Letzten Generation und würde mitdiskutieren und fragen: Wie kriegen wir das so hin, dass wir mehr Leute überzeugen als abschrecken?
Fakt ist, es geht zu langsam beim Klimaschutz. Was bleibt den Jungen, um zum Ausdruck zu bringen: Stopp, das ist unsere Zukunft?
Palmer: Ich teile Ihre Kritik am Versagen meiner Generation beim Klimaschutz. Ich nehme für mich in Anspruch, eine einigermaßen grüne Weste zu haben, Tübingen ist einen anderen Weg gegangen, unsere CO2-Emissionen sind in meiner Amtszeit um 40 Prozent gesunken, und wir wollen bis 2030 klimaneutral werden. Ich rege mich auch auf über politische Entscheidungen, die dem Klima schaden. Aber meine Frage ist: Kommen wir mit dem, was die Letzte Generation macht, schneller voran? Und meine These ist: Nein, das spaltet uns nur, und das verschreckt Leute und hindert den Fortschritt beim Klimaschutz.
Finden Sie es radikal, sich für eine gute Zukunft einzusetzen?
Palmer: Radikal bin ich selbst, und ich bin gerne für radikalen Klimaschutz. Der Unterschied zwischen Stören und Gefährden ist der Punkt. Ich kann mich vor Militärdepots hinsetzen und mich wegtragen lassen. Aber wenn ich gegen die zivile Infrastruktur massive Blockaden beginne, dann riskiere ich, dass Unschuldige schweren Schaden erleiden.
Herr Beyer, sind Sie radikal?
Beyer: Wenn das Wort, wie das heute oft fälschlicherweise geschieht, so ausgelegt wird, als wären wir extremistisch, dann glaube ich nicht, dass wir radikal sind. Aber wir wollen das Problem an der Wurzel packen, in dem Sinne sind wir auf jeden Fall radikal. Es wird immer wieder gesagt, dass wir Menschen abschrecken, aber es gibt keinen Beleg dafür, dass die Beliebtheit einer Bewegung für deren Erfolg entscheidend ist. Ja, wir stören den Alltag, aber hinter diesem Anliegen versammeln sich nach wie vor fast alle.
Es ist ja nicht so, dass beim Klimaschutz gar nichts passiert. . .
Beyer: Das Problem ist, dass wir Kipppunkte haben. Beispielsweise wenn die Eisschilde abschmelzen, wenn der Permafrostboden auftaut, erhitzt sich die Erde immer weiter. Keiner kann ganz genau sagen, wann diese Punkte erreicht werden, erste wurden wahrscheinlich schon erreicht. Dazu müssen wir Klimaneutralität zwischen 2025 und 2030 erreichen. Da geht Tübingen stärker voran als Deutschland. Der Klimakanzler Olaf Scholz will bis 2045 Klimaneutralität erreichen, während wir 2030 schon die 1,5 Grad erreichen werden. Da passt doch was nicht zusammen.
Sie reden über die ganz großen Themen wie Kipppunkte und Klimaneutralität. Hören Sie wirklich auf, wenn 9-Euro-Ticket und Tempolimit eingeführt würde?
Beyer: Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir unsere Proteste sofort unterbrechen, wenn auf diese Forderungen eingegangen wird. Dazu stehen wir. Natürlich ist die Klimakatastrophe dann nicht gelöst. Wir stellen konkrete, einfachste Forderungen, mit denen wir anfangen, jetzt angemessen auf diese Katastrophe zu reagieren.
Herr Palmer, sehen Sie eine Möglichkeit, die Letzte Generation einzubinden?
Palmer: Ich spreche ja gerade mit einem Mitglied dieser Letzten Generation. Und ich finde es absolut notwendig, radikal für den Klimaschutz zu sein, aber ich bin sehr skeptisch, wenn es darum geht, radikal gegen Gesellschaft und andere Menschen zu sein. Und in Ihrer Argumentation, Herr Beyer, gibt es einen logischen Bruch: Wenn es stimmt, dass wir nur noch fünf Jahre Zeit haben, um eine unfassbare Katastrophe zu verhindern, dann ist ein Tempolimit in Deutschland völlig irrelevant. Ich unterstütze die Forderung nach einem Tempolimit, das ist schon lange überfällig, aber an den Kipppunkten ändert das gar nichts.
Herr Beyer, geht es nur darum, herauszufinden, ob es die Politik ernst meint?
Beyer: Die Politik kann zeigen, dass sie diese einfachsten Maßnahmen wenigstens angeht. Dass sie wirklich verstanden hat, wie kritisch die Situation ist. Wenn wir selbst diese Schritte nicht umsetzen, wie sollen wir dann das Problem als solches lösen?
Palmer: Sie verzwergen sich doch damit. Mit der Radikalität aufzutreten und dann zu sagen: Tempolimit und 9-Euro-Ticket reichen, dann sind wir weg von der Straße, das wirkt auf mich fast schon lächerlich. Und für diese Minimalforderung stellen Sie ein ehernes Prinzip der Demokratie in Frage: Das Parlament entscheidet, nicht der Druck der Straße. Der Begriff „Klima-RAF“ für Straßenkleber ist natürlich abwegig und halte es auch für falsch, dass Sie ins Gefängnis mussten, aber Sie überschreiten da schon eine rote Linie.
Beyer: Es ist absurd zu sagen, dass wir uns lächerlich machen, wenn doch klar ist, wie die Situation ist, auf die wir zusteuern. Und was wir geschichtlich auch immer wieder gesehen haben: Dieser Widerstand ist durchaus ein demokratisches Mittel, und auch das effektivste Mittel, was die Gesellschaft zur Verfügung hat, gerade um schnelle Veränderung zu bewirken. Die Suffragetten, die das Frauenwahlrecht erkämpft haben, waren extrem unbeliebt, die waren teilweise noch viel radikaler wie wir, heute werden sie gefeiert. Auch Martin Luther King war einer der unbeliebtesten Menschen zu seiner Zeit. Wir haben über die vergangenen Jahre alles versucht, wir waren mit Millionen Menschen im Regierungsviertel, unsere Stimmen wurden ignoriert. Wir setzen uns auf Straßen mit unseren Körpern, um auf eine Katastrophe aufmerksam zu machen. Wie friedlich kann man sich angesichts der Situation eigentlich verhalten?
Palmer: Sie schneiden auch Zäune auf und rennen über Start- und Landebahnen.
Beyer: Auf Start- und Landebahnen waren wir nicht, wir waren immer auf den Rangierflächen. Aber genau, wir haben dafür gesorgt, dass der Flugverkehr eingestellt werden musste, weil wir in einem tödlichen Weiterso sind und nicht einmal annähernd genug getan wird. Wir schalten als Gesellschaft nicht in einen Krisenmodus um, den wir aber brauchen, um den Zusammenbruch unserer Gesellschaften zu verhindern.
Herr Palmer, angenommen, die Letzte Generation würde jetzt fordern, dass Deutschland ab nächstem Jahr aus den fossilen Energien aussteigt, würde das etwas für Sie ändern?
Palmer: Ja, ich würde zumindest die Verhältnismäßigkeit der Mittel anders beurteilen. Aber die Gefährdung anderer würde auch damit nicht richtiger.
Beyer: Mich interessiert, Herr Palmer: Welchen Weg haben wir noch? Es werden neue Gas-Terminals in Betrieb genommen, Scholz ist in der Welt unterwegs, um fossile Infrastruktur auszubauen, was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?
Palmer: Sehr berechtigte Frage, da haben Sie meinen Schwachpunkt in der Argumentation voll erwischt. Und deswegen verstehe ich auch die Verzweiflung, die hinter Ihren Aktionen steckt, total. Mit Ihren Aktionen reduzieren Sie aber Ihre Handlungsmöglichkeiten, wir zerstreiten uns maßlos, die Gesellschaft fällt auseinander. Lassen Sie uns lieber gemeinsam vor dem Bundestag für ein Gesetz demonstrieren, dass ein Windpark in einem Jahr genehmigt sein muss, damit wir endlich vorankommen.
Sind Fridays for Future die Guten und die von der Letzten Generation die Bösen?
Beyer: Fridays for Future ist auf jeden Fall deutlich beliebter, wobei sich das auch gewandelt hat. Am Anfang wurde darüber diskutiert, dass die die Schulen bestreiken, dass die das Abitur nicht schaffen, dass dann eine ganze Generation ihre Bildung verliert, weil sie freitags mal nicht in die Schule gegangen sind. Was man sehen muss, ist, dass Fridays for Future so erfolgreich wurde, weil die eben genau diesen Regelbruch begangen haben.
Palmer: Fridays for Future hat weitaus größere Forderungen als die Letzte Generation, : Klimaneutralität. Und es bleibt bei zivilem Protest und bei einem Verstoß gegen die Schulpflicht. Bei der Letzten Generation ist beides unverhältnismäßig gekippt.
Die Letzte Generation protestiert auf der Straße und vor Raffinerien. Museen passen da nicht so richtig dazu. Muss es sein, dass Sie auch Kunstwerke beschädigen – oder vielmehr: die Rahmen?
Beyer: Alle gesellschaftlichen Bereiche werden von der Klimakatastrophe betroffen sein. Auf einem drei bis vier Grad heißeren Planeten wird uns Kunst nicht mehr interessieren, weil wir uns um Essen und Wasser prügeln. Daher ist es wichtig, auch in diesen Bereichen darauf aufmerksam zu machen. Die tatsächliche Störung lässt sich aber am besten auf Straßen erreichen, darum sehen wir das zurzeit als effektivstes Mittel, das wir zur Verfügung haben.
Ist Aufmerksamkeit wichtiger als Rückhalt in der Gesellschaft?
Beyer: Bei den Forderungen haben wir den Rückhalt in der Gesellschaft, das ist entscheidend. Wir wollen Maßnahmen. Darum geht es uns auch um Aufmerksamkeit, aber vor allem um einen Druck, der nicht ignoriert werden kann.
Zu den Personen
Jakob Beyer
Der 29-jährige Aktivist der Letzten Generation ist in Berlin geboren, aber wohnt seit Kurzem in Leipzig. Er hat in Berlin Ökologie und Umweltplanung studiert. Danach hat er eine Lehre zum Zimmermann begonnen sowie eine Fortbildung zur Installation für Photovoltaikanlagen absolviert. Weil sich dies zeitlich nicht mehr mit dem Protest vereinbaren ließ, hat er die Ausbildung abgebrochen. Anfang November hat er mit anderen Aktivisten der Letzten Generation in München demonstriert, wurde festgenommen und saß daraufhin 23 Tage lang im Gefängnis. Eigentlich wurden seine Mitstreiter und er sogar zu 30 Tagen Haft verurteilt.
Boris Palmer
Im Oktober wurde der 50-jährige Politiker zum dritten Mal zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt – erstmals als Parteiloser. Seit 1996 war Boris Palmer Mitglied bei den Grünen gewesen, dann wurde 2021 wegen Streitereien um Tabubrüche und Rassismusvorwürfe ein Ausschlussverfahren gegen ihn eingeleitet. Als Kompromiss einigte man sich beim Landesschiedsgericht darauf, dass Palmers Mitgliedschaft in der Partei bis Ende 2023 ruht. Bis zum Jahr 2030 will Boris Palmer Tübingen klimaneutral machen – das ist deutlich ambitionierter als die Vorhaben anderer Kommunen sowie die bundesweiten Pläne. (jub)