Schwäbische Alb - Wollen wir spazieren gehen?", fragt Anuschka Eberhardt. Die 44-Jährige wirft sich einen Mantel über, schlüpft in die fast kniehohen, braunen Stiefel, sagt ihren drei Kindern und dem Ehemann Tschüss, und tritt vor die Tür. Es ist das letzte Haus in dem weniger als 2000 Einwohner zählenden Ort auf der Alb, dahinter kommt nur noch Wald und Fußballplatz.
Die frühere Stuttgarterin hat sich für ein naturnahes Leben auf dem Land entschieden. Weit weg von veganen Cafés, Bioläden und einem gut funktionierenden öffentlichen Nahverkehr. Stattdessen wird ihre Tochter gelegentlich mit einem alten SUV zur Schule gebracht, jeder dritte Nachbar fährt einen Diesel. Sie auch. Und dennoch sagt Anuschka Eberhardt: „Hier, auf der Schwäbischen Alb, leben die Menschen viel nachhaltiger als in der Stadt.“
Auf dem Land ergebe sich ein umweltfreundliches Leben oft von selbst. Dinge, die in der Großstadt als hip gelten würden – Urban Gardening, Bienen halten oder Gemüse anbauen – machten auf dem Land viele ganz selbstverständlich und ohne Brimborium. Zugleich aber würden Landbewohner von der Politik ständig fürs Autofahren gegeißelt.
Wald und Wiese als Spielplatz
Die Schwäbin ist auf der Alb groß geworden, in der Nähe von Blaubeuren. Nachhaltigkeit gehörte für sie schon immer dazu, als Kind wurde sie im Secondhandladen eingekleidet, als junge Frau arbeitete sie als Biohändlerin. Bevor sie mit ihren Mann und den Kindern auf die Alb zog, wohnte die Familie acht Jahre lang im Stuttgarter Speckgürtel. „Mir war klar, dass wir dort nicht alt werden. Schon wegen des Flughafens und der A 8.“ Auf dem Land genießt Anuschka Eberhardt die Ruhe und die bessere Luft. „Ein Stadtpark in Stuttgart ist keine echte Natur.“ Nun könnten die Kinder einfach in den Wald laufen oder auf irgendeiner Wiese in der Nähe spielen.
Auf der Alb ist Anuschka Eberhardt Hausfrau. Schon zweimal hat sie ein Studium begonnen, es dann aus „verschiedenen Gründen“ wieder abgebrochen. Sie ist Mitglied in der Organisation Mensa, der man nur beitreten kann, wenn man einen überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten hat. Trotzdem findet Anuschka Eberhardt keinen Job, der zu den Betreuungszeiten ihrer Kinder passt. Die Grundschule ihres Jüngsten endet um 12, Betreuung wird nur bis 13.30 Uhr angeboten. „Zur Not muss ich noch mal studieren.“
Bis dahin verbringt sie ihre Zeit mit sogenannter Care-Arbeit. Ihr Mann arbeitet und verdient das Geld, sie macht die Kinder schulfertig, schmiert Brote, hilft bei den Hausaufgaben, fährt die Kinder zu Freunden und Freizeitaktivitäten, kauft für die Familie ein, kocht und putzt. Außerdem kümmert sie sich um das alte Forsthaus, in dem die Familie lebt. Zum Grundstück gehören auch ein Stück Wald sowie ein großer Garten. Durchschnittlich eine Stunde pro Tag arbeitet Anuschka Eberhardt im Garten. Auch das ist so eine Phrase, die sie nicht mehr hören könne: alles der Natur überlassen. „Das funktioniert selbst mit einem naturnahen Grundstück nicht.“
Wie der Ort heißt, wo die Familie wohnt, soll lieber nicht in der Zeitung stehen, sagt sie. Dass die Familie in dieser Gemeinde gelandet ist, war purer Zufall. Anuschka Eberhardt und ihr Mann hatten im Internet das Haus des ehemaligen Gemeindeförsters entdeckt. Das Paar jagt in seiner Freizeit, das Haus gefiel ihnen. 2016 zogen sie um.
Das Jagen sei ein gutes Beispiel für etwas, wofür das Verständnis auf dem Land größer sei, sagt Anuschka Eberhardt. „Leute aus der Stadt denken manchmal, wir schnallen uns ein Gewehr um, laufen in den Wald und knallen alles ab, was wir sehen.“
Ökohipster, die alles besser wissen
Sie ärgert sich über die Ökohipster in Großstädten, die scheinbar alles besser wissen. Städter hätten oft wenig Ahnung, was es bedeute, zum Beispiel für Windräder zu sein oder für die Ansiedlung des Wolfs: „In Stuttgart wird es so bald nicht passieren, dass ein Windrad aufgestellt wird. Und einem Wolf begegnet man in der Großstadt auch nicht.“
Fridays-for-Future-Demonstrationen hält sie für zwiespältig: „Wenn die jungen Leute so leben würden wie ihre Großeltern, wäre dies oft deutlich nachhaltiger. Einerseits demonstrieren viele Junge fürs Klima. Aber wer kauft denn das ganze Zeug bei den Billigläden mit ihrer Wegwerfmode?“ Vieles käme ihr wie eine Ersatzhandlung vor, weil die Menschen wüssten, dass sie sich nicht klimafreundlich benähmen.
Sie zeigt ihren Garten mit Hühnerstall, dann geht es durch das verwinkelte Haus zurück ins Wohnzimmer. An der Wand hängen Geweihe. Sie verscheucht die drei Kinder vom Fernseher und dem Laptop. Bevor es Abendessen gibt, sollen sie noch etwas was für die Schule machen. Sie stellt Keksdosen auf den Tisch und beginnt, über das Thema zu sprechen, das sie fuchsig macht. „Die Politik schießt sich voll auf Autofahrer ein, vor allem auf Dieselfahrer.“ Viele Älbler hätten aber ein Stück Wald. Und um abgesägte Baumstämme oder Grünschnitt transportieren zu können, brauche es ein robustes Fahrzeug, an das man auch einen Anhänger mit Ladung befestigen kann. Das seien nun einmal oft Diesel. „Ich würde mir sofort ein Hybridfahrzeug kaufen, aber das ist nicht erschwinglich.“
Die Eberhardts haben nur ein Auto, doch dabei handelt es sich um so etwas wie das Feindbild der Umweltschützer: einen alten SUV mit sieben Sitzen, Diesel. Einmal war Anuschka Eberhardt damit in Tübingen und hat im Bioladen eingekauft. Danach hing ein Zettel an der Windschutzscheibe: „Klimakiller“, stand darauf. Zugleich würden alte VW-Busse als cool wahrgenommen werden: „Die Leute sind eben nicht unvoreingenommen und tolerant.“
Wenn Politiker in die gleiche Kerbe schlagen, kann sich Anuschka Eberhardt echauffieren. „Um mobil zu sein, braucht man keinen Führerschein“, hat der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) kürzlich gesagt. „Das ist realitätsfern und wird den Menschen hier nicht gerecht.“
Als es noch kein Corona gab und ihr Mann für seinen Job mit dem Zug nach Stuttgart gependelt ist, hatte er für eine Strecke zweieinhalb Stunden gebraucht, „wenn alles gut lief – und es läuft ja selten alles gut“. Wenn ihre Tochter nicht mit dem alten SUV zur Schule gebracht würde, sondern auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen wäre, bräuchte diese dafür fast eine Stunde – und wäre dann auch noch 20 Minuten vor Schulbeginn da. „Mit dem Auto dauert es fünf Minuten.“ Auch wenn ihre Kinder zum Fußball, zum Musikunterricht oder zum Malen wollen, müssen sie gefahren werden. Dafür würde man auf dem Dorf aber auch Fahrgemeinschaften bilden: Eltern verabreden sich, wann wer die Kinder irgendwo hinbringt.
Machen Landbewohner klimafreundlicheren Urlaub?
Anuschka Eberhardt ist überzeugt, dass Menschen, die auf dem Land leben, auch klimafreundlicheren Urlaub machen als Städter. In den Ferien irgendwo hinzufliegen, das würde von ihren Nachbarn kaum jemand machen. „Eher fährt man einmal im Jahr mit dem Wohnwagen in den Urlaub.“ Ein Stuttgarter habe ihr mal stolz berichtet, dass er nun sein Auto abgeschafft habe. Auf Flugreisen verzichtete er aber nicht, er fuhr nur mit dem Fahrrad zum Flughafen nach Echterdingen. Anuschka Eberhardt und ihre Familie verbringen die Ferien immer zu Hause – und machen Tagesausflüge: „Es gibt auch in der Region viel Spannendes zu entdecken.“
Jetzt im Winter könnte die Familie sowieso nicht länger als zwei Tage am Stück weg, weil das Haus bei der Rückkehr sonst „arschkalt“ sei, sagt sie. Im Forsthaus gibt es nur eine Holzheizung, was „echt Arbeit ist“. Fernwärme sei für Stuttgart zwar prima, aber nicht verfügbar auf der Alb. „Es kann nicht jeder all das machen, was gerade für gutgeheißen wird.“ Dafür hat die Familie eine Holzheizung und eine Solaranlage auf dem Dach des Forsthauses. „Leider wohnen wir am Nordhang, jetzt im Winter bringen uns die Solarzellen wenig.“
Als die Familie noch in Stuttgart wohnte, sind sie jedes Wochenende irgendwohin gefahren, „möglichst schnell raus in die Natur“. Jetzt fahren sie vielleicht dreimal pro Jahr nach Stuttgart – meistens dann, wenn die Kinder in die Wilhelma wollen oder ein Museumsbesuch ansteht. Man müsse sich klarmachen, dass die meisten Vorzüge einer Stadt mit Konsum zusammenhängen, sagt Anuschka Eberhardt. Im ländlichen Raum würden die Menschen viel mehr Zeit draußen und weniger Zeit mit Einkaufen verbringen, „Markenklamotten sind hier egal“. Auch deshalb glaubt Anuschka Eberhardt, dass die Menschen auf dem Land besser mit den coronabedingten Einschränkungen klarkämen als in der Stadt. „Plötzlich fällt dieser ganze Aspekt Konsum weg. Und die Leute in der Stadt gehen sich auf den Keks.“ Auf dem Land sind es die Menschen eher gewohnt, dass sie ihre Freizeit unabhängig von externen Angeboten gestalten.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Meist haben die Leute auf dem Land größere Grundstücke. Das ist zum einen nicht gerade klimafreundlich. Und zum anderen gibt es an Haus, Hof, Garten, Waldstück oder Streuobstwiese auch deutlich mehr zu tun als in einer kleinen Mietwohnung in der Stadt. „Wir persönlich haben hier auf dem Land weniger Zeit und weniger Bedürfnis, uns anderweitig abzulenken und zu konsumieren“, sagt Anuschka Eberhardt. „Vielleicht erleben wir Corona deshalb als weniger einschneidend.“