Stuttgart - Steht ein Mensch unter Schock, spielt das Gehirn manchmal merkwürdige Streiche. „Warum bewegt sich da etwas?", fragt die Frau in dem weißen Schutzanzug und zeigt auf die Stelle, wo sie das Gesicht des Toten vermutet. „Kommen da noch Gase raus?" Die Bestatterin schüttelt den Kopf. Sie kennt solche Fragen. „Dieser Eindruck hängt mit dem Trauma zusammen, das du gerade erlebst. Dein Gehirn gibt dir vor, dass da ein Mensch liegt, der eigentlich atmen müsste. Darum siehst du Bewegungen, die gar nicht da sind."
Als Francesca das Gesicht ihres Vaters zum letzten Mal sah, saß er in seinem Garten in Stuttgart. Keine drei Wochen ist das her. Nun steht die Mittvierzigerin mit ihrer Ehefrau Leonie in der Tiefgarage eines Stuttgarter Bestattungsinstituts. Die Sonne draußen und der milde Wind passen so gar nicht zu der Szene unter der Erde, die eher an einen Gruselfilm erinnert: vier Personen in weißen Schutzanzügen, blauen Handschuhen und FFP2-Masken. Zwischen dem Leichentransporter, anderen Autos und Totenbahren liegt Matteo in einem Sarg, eingepackt in einen Plastiksack.
Die Familie hat eine Botschaft
Francescas Vater ist an Covid-19 gestorben. 78 Jahre alt wurde er. Keine Vorerkrankungen. Die weiße Kunststoffhülle um seinen Leichnam ist nötig, weil auch aus Mund oder Nase von Verstorbenen theoretisch noch Aerosole entweichen können und damit eine Ansteckungsgefahr besteht. „Wo ist denn seine Hand?“, fragt Francesca. Die Bestatterin tastet den Sack ab und zeigt ihr die Stelle, vorsichtig streichelt die Tochter über das Plastik und den leblosen Körper darunter.
Kurz darauf wendet sich Francesca ab, sie nickt: „Ich habe ihm alles gesagt, was ich noch sagen wollte.“ Gemeinsam mit ihrer Frau hebt sie den Deckel auf den Sarg und schiebt ihn auf dem Fahrgestell zu dem Transporter rüber.
Eigentlich heißen Francesca, Leonie und Matteo anders. Die Familie will nicht mit echtem Namen in die Zeitung, weil sie den anderen Hinterbliebenen nicht zusätzlich wehtun wollen. Francesca und Leonie wollen aber eine Botschaft verbreiten, deshalb lassen sie sich in dieser privaten Situation fotografieren und erzählen, was sie in diesem Monat miterleben mussten. Sie wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, wie gefährlich Covid-19 ist, dass man daran sterben kann – und wie schnell das gehen kann. Denn auch in ihrem Freundeskreis gebe es so manchen, der meine, dass Corona nicht schlimmer als eine normale Grippe sei und die Vorsichtsmaßnahmen überzogen seien.
Besuche auf einer Covid-19-Station sind verboten
„Seit ich denken kann, war mein Vater niemals krank“, erzählt Francesca, während sie auf der Terrasse des Bestattungsinstituts eine Zigarette raucht. „Kranksein – das gab es für ihn nicht.“ Doch in der ersten Oktoberwoche bekam Matteo auf einmal Fieber. Nach einem Tag verschwand es zwar wieder, nun begann er aber heftig zu husten. Als er kurzatmig wurde, rief die Familie den Krankenwagen. In der Klinik wurde Matteo auf das Coronavirus getestet: positiv.
Der 78-Jährige wurde an ein Beatmungsgerät angeschlossen und ins künstliche Koma versetzt. Nachdem sich die Werte schnell gebessert hatten, entschlossen sich die Ärzte, den Patienten aufwachen zu lassen. Matteo geriet in dieser Phase in einen sogenannten Delir, eine Art albtraumhaften Dämmerzustand. „Es hätte bestimmt geholfen, wenn er mal ein vertrautes Gesicht gesehen oder eine vertraute Stimme gehört hätte“, meint Francesca. „Aber wir durften ihn ja nicht besuchen. Das war das Schlimmste.“ Besuche auf einer Covid-19-Station sind verboten.
Ein Arzt meinte, dass er im Januar wieder zu Hause wäre
„Du sitzt zu Hause und wartest, wartest, wartest“, sagt Francesca. „Und immer wieder rufst du im Krankenhaus an.“ Die Ärzte hätten versucht, sie zu beruhigen, ihr erklärt, dass der Zustand ihres Vaters stabil sei. Tatsächlich gingen die Entzündungswerte stetig zurück, auch die Blutdruckmedikamente waren bald nicht mehr nötig. Ein Arzt erklärte, dass Matteo, sobald er nicht mehr ansteckend sei, auf die Beatmungsstation wechseln könne, anschließend in Reha käme und spätestens im Januar wieder zu Hause sei.
Am Morgen des Todestags meinte Leonie zu Francesca: „Du solltest etwas essen. Wer weiß, was heute noch kommt.“ Mit ihrem diffusen negativen Gefühl sollte sie richtig liegen. Im Krankenhaus wurde Matteos Katheter gewechselt, anschließend stiegen die Entzündungswerte sprunghaft an. Man müsse schauen, ob man das hinbekomme, hieß es nun von den Ärzten. Um 20 Uhr der letzte Anruf aus der Klinik: Es sei vorbei. Man habe noch versucht, den Patienten zu reanimieren, damit sich das injizierte Adrenalin im Körper ausbreiten könne – erfolglos.
„Danach war ich eine Telefonzentrale“, sagt Francesca. Sie musste die Todesnachricht an Verwandte, Freunde und Bekannte weitergeben. Als sie den Hörer endlich aus der Hand legen konnte, breitete sich ein Gefühl der Fassungslosigkeit in ihr aus. „Wie soll es jetzt weitergehen? Ich wusste es nicht.“ Dazu kam die Wut, weil sie ihrem Vater in dessen letzten Stunden nicht beistehen durfte.
Bestatterin hält Vorgaben für problematisch
Stirbt ein Mensch an oder mit dem Coronavirus, so enden mit dessen Tod nicht die Sicherheitsmaßnahmen. „Für den Umgang von an oder mit Covid-19 Verstorbenen gibt es konkrete Vorgaben vom Gesundheitsamt und Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts“, erläutert Nicole Bornkessel, Betriebsleiterin bei Bestattungen Rolf.
Um eine theoretisch mögliche Ansteckung zu verhindern, reicht es nicht aus, ein mit Desinfektionsmittel getränktes Tuch über Mund und Nase des Verstorbenen zu legen. Tote, die bis zuletzt infektiös waren, müssen in Body Bags, also Bergehüllen, gebettet werden – ein schönerer Begriff als „Leichensack“, wie Bornkessel findet. „Trotzdem werden die Verstorbenen so, wie sie sind, irgendwie entsorgt. Ich muss das leider so sagen.“ Weder Waschen noch Einkleiden ist vor der Einäscherung oder der Erdbestattung erlaubt. Trauerfeiern mit offener Aufbahrung ebenfalls nicht. „Für die Hinterbliebenen ist es oft eine emotionale Katastrophe, dass sie sich nicht von einem geliebten Menschen verabschieden können“, sagt Bornkessel.
Gemeinsames Trauern ist nicht möglich
Francesca und Leonie wollten zumindest an Matteos Sarg stehen – auch wenn der Verstorbene in einer verschlossenen Body Bag ruht und die beiden Frauen nur in kompletter Schutzkleidung die Tiefgarage betreten durften. Francescas Mutter durfte nicht mitkommen: Als ihr Mann ins Krankenhaus gekommen war, wurde auch sie auf das Coronavirus getestet – ebenfalls positiv. Seither ist sie in häuslicher Quarantäne. Nicht einmal jetzt, wo sie um den verstorbenen Ehegatten weint, darf sie jemand aus ihrer Familie besuchen oder gar in den Arm nehmen.
Das gemeinschaftliche Trauern ist ausschließlich telefonisch oder am Computerbildschirm möglich. Dann redet die Familie über Matteo, der bis diesen September ein aktiver Mann war, der gerne mit seinen Freunden Karten spielte und viel Zeit im Garten verbrachte. Wer hätte gedacht, dass sein Leben so plötzlich endet?
Francesca sagt, dass sie versuche, mit all den offenen Fragen klarzukommen. Kurz bevor ihr Vater ins Krankenhaus kam, habe sie zu ihm gesagt: „Papa, dir geht es schon vier Tagen schlecht. Geh bitte zum Arzt.“ Er entgegnete: „Es wird alles gut, Francesca.“ Nun, da sie sich in einer Tiefgarage von ihm verabschiedet hat, fragt sich die Tochter, warum er nicht sagte: „Ich werde wieder gesund, Francesca.“
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