Thomas ist ein durchschnittlicher Student. Er studiert im sechsten Semester Betriebswirtschaftslehre mit Nebenfach Politik an der Uni Köln, arbeitet an zwei Nächten pro Woche in einer Tankstelle und wohnt in einer WG. Dienstags ab 8 Uhr müsste er eigentlich in einer Vorlesung sitzen, „Vergleichende Analyse Politischer Institutionen", Aula 2. „Das ist für mich beim besten Willen nicht machbar", sagt der 24-Jährige. „Ich müsste die Nacht komplett durchmachen, würde mich dann in der Vorlesung keine Sekunde mehr konzentrieren können und wahrscheinlich halb einschlafen." Das Fach ist für ihn aber Pflicht, er muss die Prüfung am Ende des Semesters ablegen und bestehen. Sonst schafft er seinen Abschluss nicht.
Studenten wie Thomas sind auf die Hilfe von Kommilitonen angewiesen. Sie schreiben Rundmails, bitten um Unterstützung, um Mitschriften und Unterlagen. Und es gibt sie ja auch überall: Studenten, die jede Woche vor Ort sind, den Stoff vor- und nachbereiten, mitschreiben, sich akribisch und langfristig auf Klausuren vorbereiten. Für Leute wie Thomas, die aus diversen Gründen nicht kommen können oder wollen, aber trotzdem gerne ihre Prüfungen bestehen, gibt es an der Uni Köln die Mitschriften AG. „Die ist jeden Cent wert", sagt er.
Die AG sitzt am Ende eines Glastunnels hinter der Studiobühne Köln, zwischen zwei Kopierern, meterhohen Regalen voller Unterlagen, einer kleine Holztheke. Vor der Theke warten Studenten auf ihre Unterlagen, dahinter kopieren Kommilitonen Mitschriften von Vorlesungen, Übungen, Tutorien für sie. Auf einem Aushang stehen die aktuell empfohlenen Mitschriften - also jene, die von anderen bereits gute Bewertungen erhalten haben. Es gibt insgesamt etwa 2000 Aufzeichnungen aus früheren Semestern und etwa 30 vom laufenden. Wer ganz aktuelle Aufzeichnungen haben möchte, kommt einmal pro Woche und holt sich jeweils die Mitschrift der vergangenen Woche ab. Vier bis zehn Euro kosten die Unterlagen pro Fach und Semester, je nach Zahl der Seiten. Das deckt die Unkosten. Etwa 80 Studenten arbeiten hier. „Wir wollen in erster Linie den Studenten helfen, nicht profitieren", sagt Berit Czock, eine von 13 Geschäftsführern. „Wir haben wirklich viel zu tun. Oft bildet sich eine lange Schlange. Manche nutzen uns, um gar nicht in die Vorlesung zu gehen, andere nehmen die Mitschrift als zusätzliche Hilfe im Hörsaal."
Die Unterlagen gibt's auch im WebshopEntstanden ist die Einrichtung im Jahr 1971. Damals hatten Studenten zweier benachbarter Wohnheime untereinander ihre Aufzeichnungen getauscht - bis sich andere beschwerten, dass der Austausch für sie nicht zugänglich war. Seitdem ist die Mitschriften AG stetig gewachsen, hat sich professionalisiert, das Angebot erweitert. Inzwischen können sich Kunden die Unterlagen über einen Webshop bestellen und per Post zuschicken lassen. Die Unterlagen sind schon lange nicht mehr handschriftlich. Die Mitschreiber erhalten etwa 500 Euro sowie einen Gutschein über 50 Euro pro Mitschrift, den sie wiederum für Mitschriften anderer einlösen können. Die Mitarbeit ist ehrenamtlich, falls mal ein kleiner Beitrag übrig bleibt, investieren die Studenten das Geld in neue Ausstattung. „Wir wollen und dürfen ja gar nicht gewinnbringend arbeiten", sagt Berit Czock. Die Mitschriften AG ist Teil der Fachschaft. Damit verpflichtet sie sich, keine Gewinne zu erwirtschaften.
Ähnliche, mehr oder weniger professionelle Organisationen gibt es inzwischen an vielen anderen deutschen Hochschulen - die Kölner waren aber vermutlich die Ersten. An der Uni Passau beispielsweise nutzen Studenten eine Facebook-Seite, um Unterlagen zu verkaufen oder gegen ein paar Flaschen Bier und Tafeln Schokolade zu tauschen. An der TU München vertreiben die Fachschaften Mathematik, Physik und Informatik Skripte, Mitschriften und Prüfungsprotokolle für bis zu vier Euro pro Stück. Ähnlich macht es auch das Studierendenwerk der Hochschule Karlsruhe. Einige Fakultäten betreiben Foren, in denen Studenten in Tauschbörsen mit Unterlagen und Büchern handeln, anderswo organisieren sich Studenten über soziale Medien. Zudem gibt es bundesweit einige Plattformen, die Studenten den Austausch von Unterlagen erleichtern, allen voran stuvia.de, unidog.de und uniturm.de.
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