Man hört einen Pfiff. "Komm, komm, weiter, weiter! Schröder, du Bratwurst!" Michael Schröder, der Torwart der Nationalmannschaft für geistige Behinderte hat es versäumt, sich bei einem Staffelspiel mit dem nächsten Spieler abzuklatschen. Die Spieler sollen in einem Trainingsspiel üben, das Spielfeld zu überblicken und miteinander zu kommunizieren. Denn kicken können die Spieler allesamt gut, Nationaltrainer Jörg Dittwar muss stattdessen eher immer für die Spieler mitdenken. "Von draußen muss ich den Jungs 90 Minuten helfen wie ein Trainer in der E-Jugend. Die können es zwar, aber du musst denen helfen, weil sie es nicht sehen. Wenn du sagst, wir greifen mit zwei Stürmern an - nach drei Minuten ist das schon wieder weg. Da muss man immer wieder reinrufen: Verschieben!" Er lacht: "Das Schöne ist, dass in unseren Stadien nichts los ist. Da verstehen dich die Spieler."
Sie wirken wie eine Jugendauswahl des DFBDie Nationalspieler haben kognitive Schwierigkeiten, die ein Außenstehender nicht auf Anhieb erkennt, eher wirken sie wie eine Jugendauswahl des Deutsch-Fußball-Bundes. "Wenn Leute herkommen und schauen auf das Zeichen, fragen die: 'Seid ihr beim DFB?' Dann sagen wir: 'Nein, wir sind Nationalmannschaft ID!' Dann fragen die: 'Was ist ID?", dann sage ich: 'Geistig beeinträchtigt.' - 'Was? Die sind behindert? Das sieht man aber gar nicht.' Also: Wir kriegen vollen Respekt!'"
Damit bei der Europameisterschaft in Paris elf Freunde auf dem Platz stehen, muss es auch in der Mannschaft stimmen. Sie muss zusammenarbeiten, miteinander kommunizieren und sich entwickeln. "Bei den Turnieren bin ich eigentlich vor dem Spiel mindestens zweimal mit den Spielern alleine zusammen, erkläre und frage, verstehst du es? Dann sagt er: 'Nein.' Aber das ist kein Problem, weil dann keiner dabei ist, und er schämt sich auch nicht."
Trainer Dittwar spielte 150 mal für den 1. FC NürnbergDittwar stand 150 Mal in der Bundesliga für den 1. FC Nürnberg als Spieler auf dem Platz, seit sieben Jahren ist er Nationaltrainer der deutschen Fußballnationalmannschaft ID. Zweieinhalb Tage in Der Woche erbringt Dittwar mit den Spielern in Hennef.
Was müssen die Spieler nachweisen, um überhaupt auflaufen zu dürfen? Zum einen natürlich fußballerisches Können und zum anderen eine frühkindliche geistige Behinderung. Diese müssen die Trainer durch Tests nachweisen, die mit dem Spieler gemacht wurden, als er noch im Kindesalter war. Als Kind dürfen die Spieler 75 IQ-Punkte nicht überschritten haben, und müssen gegenüber gleichaltrigen zurückgeblieben sein. Wenn die Fußballer in ihren Förderschulen als Talente positiv auffallen, werden diese Kriterien überprüft. Erst wenn die Unterlagen international akzeptiert werden, darf der Spieler auflaufen.
Torwart Schröder war bei allen internationalen Turnieren dabeiMichael Schröder steht seit 2005 für die Nationalelf im Tor und war seitdem bei allen internationalen Turnieren für Deutschland dabei: Bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland, bei der Europameisterschaft 2008 in England, bei der WM 2010 in Südafrika, bei der EM 2012 in Schweden, und auch bei der WM vor zwei Jahren Brasilien. Jetzt kämpft er um seinen Stammplatz als Torhüter. In Hennef fehlt allerdings sein Konkurrent um die Nummer 1. So ganz begeistert, dass dieser nicht dabei ist, ist Michael auch nicht: "Man kann das so sehen, wie man will. Ja, ein Vorteil, da hat man wenigstens keinen, der hinter dem Rücken steht und ein bisschen Stress macht. Aber ich finde es ein bisschen traurig, weil dann kann man sich nicht untereinander motivieren. Manchmal hilft das auch."
Der Klang der Hymne ist etwas BesonderesIn der Öffentlichkeit als geistig behindert dazustehen, ist einigen Spielern unangenehm. Deswegen wollen sie auch nicht, dass Fotos von ihnen auftauchen, wie sie für ihre Nationalmannschaft spielen. Für Michael ist das kein Thema. "Man sollte keinen ausgrenzen. Es ist einfach nur erschreckend für die meisten Leute, die außerhalb sind. Die denken dann: 'Öööh du bist ja behindert und so alles.' Jeder hat irgendwo eine kleine Macke, sage ich jetzt mal auf Hochdeutsch, und jeder steht dazu. Aber - wie sagt man das jetzt -, die meinen halt, nicht ernst genommen zu werden. Aber das ist totaler Blödsinn! Wenn einer einen nicht akzeptiert, sollte man ihn einfach da stehen und ihn reden lassen."
Der Klang der Nationalhymne ist für Michael Schröder was ganz besonderes: "Den Adler auf der Brust zu tragen, fürs Land zu spielen, das ist schon was Tolles. Ich mache immer die Augen zu und genieße es einfach, das zu hören. Ich singe auch mit, und wenn ich halt mal den Text vergessen habe, bewege ich halt die Lippen dazu. Dann komme ich wieder in den Takt rein und singe weiter."
Der Trainer könnte auch den Traum des Bundesliga-Coachs hegenJörg Dittwar ist für die Mannschaft so etwas wie ein zweiter Vater. Die Spieler können ihn oder die Co-Trainer anrufen, wenn sie zum Beispiel zu Hause ein Problem haben. Der Trainerstab tauscht sich außerdem auch regelmäßig mit den Betreuern der einzelnen Spieler aus. Dittwar hat die A-Lizenz und könnte eigentlich auch eine Mannschaft in der Regionalliga trainieren oder den Traum des Bundesliga-Trainers hegen. "Mir macht das Spaß!", entgegenet er. "Die Jungs sind mir ans Herz gewachsen. Geld ist zweitrangig. Ich will einfach, dass der Behindertensport, die Sache Fußball ID, dass das mehr in die Öffentlichkeit kommt. Da wäre es ganz gut, wenn wir mal ins Halbfinale kommen könnten." Nach sieben Jahren, seit Jörg Dittwar Nationaltrainer ist, hat er jetzt die stärkste Truppe beisammen. Davon ist er überzeugt. Die Europameisterschaft kann kommen!
Autor des Radiobeitrags: Jonathan Ponchon